Zum Tod von Ulrich Beck : Der Freihandsegler der Theorie
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Ulrich Beck 1944 - 2015 Bild: Julia Zimmermann
Der Soziologe Ulrich Beck brachte Zeitgeist und politischen Wandel auf griffige Formeln und wurde damit zu einem der prominentesten Vertreter seines Faches. Jetzt ist er im Alter von siebzig Jahren gestorben.
Im Leben Ulrich Becks änderte sich alles aufgrund einer Koinzidenz. Im Jahr 1986 veröffentlichte der damals in Bamberg lehrende Soziologe sein Buch über „Die Risikogesellschaft“. Es war als eine Revision des linken Denkens gemeint. Die moderne Gesellschaft erschien bei Beck nicht mehr als eine vom „Klassengegensatz“ samt angeschlossenem Konflikt und also durch die Stellung von Personen in der wirtschaftlichen Produktion geprägte. Ökologische, technische und biographische Risiken seien nicht einfach durch Umverteilung oder staatliche Verwaltung in den Griff zu bekommen. Not, so eine der plakativsten Formulierungen des Buches, folge der Unterscheidung von oben und unten, Smog hingegen sei demokratisch.
Kaum hatte Beck das geschrieben, trat die nukleare Katastrophe von Tschernobyl ein. Das erledigte zunächst fast jede Diskussion, es gab ein Buch zur Lage. In mehr als dreißig Sprachen wurde es übersetzt, sein Autor, der bis dahin ein Ungleichheits- und Arbeitsmarktforscher mittlerer Bekanntheit war, erlangte Höchstprominenz. Im Rückblick könnte man fast meinen, er habe sogar das Wort „Globalisierung“ erfunden, das sich damals rasend schnell verbreitete.
Ratgeber für Bastelbiographien
Becks Thesen wie die von der zunehmenden „Individualisierung“ der Lebensführung, die nicht mehr auf milieuspezifische Traditionen zurückgreifen könne, leuchteten dabei zumindest bei städtischen Lesern aus dem akademischen Milieu ein. Bücher über Liebe und Partnerschaft, die Phänomene wie Alleinerziehung und Singlehaushalte aufnahmen, wurden als soziologische Ratgeber im Zeitalter der „Bastelbiographie“ gelesen. Zwar blieb bei all dem immer etwas unklar, inwiefern sich Individualität überhaupt steigern lässt. Doch das Gefühl, Berufswahl und Heiratsverhalten, Konsumstil und politische Wahlentscheidungen sowie die Kombinationen aus all dem ließen nicht mehr mit einem „So war das bei uns schon immer“ begründen, hatte durch Beck, der bald danach und bis 2009 an der Münchner Universität lehrte, eine zeitdiagnostische Prosaform gefunden.
Wer also für den nicht nur politischen, sondern auch lebensweltlichen Übergang von Rot zu Rot-Grün eine essayistische Hintergrundsgewissheit brauchte, hatte sie damit. Was Ralf Dahrendorf, dem Beck später an die London School of Economics nachfolgte, in den sechziger Jahren für die Sozialliberalen war, bedeutet er für die neuen Koalitionen. Wenig später erfand man in England „New Labour“. Wiederum pünktlich, 1993, hatte Beck unter dem Titel „Die Erfindung des Politischen“ seine „Theorie der reflexiven Modernisierung“ vorgelegt, die den Parteien empfahl, sich von den Wunschvorstellungen der Industriemoderne, ihren Familienbildern und ihren sozialstaatlichen Steuerungsphantasien abzulösen, um ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen in den Blick zu nehmen.
Sich derart in vollkommener Übereinstimmung mit dem Zeitgeist wissend, ließ Beck sein Fach, das alle seine Thesen auseinandernahm und wenig davon behalten mochte, hinter sich. Man konnte an ihm gut studieren, dass Zeitdiagnostik auch bedeutet, alles neu erfinden zu müssen, mitunter auch das, was es schon gibt. So verwendet Beck beispielsweise viel Energie darauf, der Soziologie mitzuteilen, sie denke zu eng in nationalen Grenzen. Oder er sagte in „Der eigene Gott“ (2008) eine Individualisierung von Religion voraus, die vierzig Jahre zuvor unter dem Titel „unsichtbare Religion“ schon einmal als Diagnose vorgetragen worden war. So oder so gehörte der äußerst umgängliche, unaggressive Intellektuelle nun politischen Programm- und Zukunfts- und Ethikkommissionen an, produzierte Politikempfehlungen für die „neue Mitte“, gab Buchreihen zu seinen Diagnosen heraus und war zu fast jedem gesellschaftlichen Großthema auskunftsfähig.
Persönlich erhielt er sich dabei viel Selbstironie. Unter seinen Schülern – die ihm einst eine Festschrift derjenigen, „die alle schon einmal unter dem Namen Ulrich Beck publiziert haben“, übergeben haben sollen – ist das Urteil über den sympathischen Chef, der auch stark abweichende Argumente gelten ließ, einhellig. Selbst Kollegen konnten allenfalls seinen freihändig entwickelten Thesen, aber nie seiner Person böse sein. Am ersten Januar ist, wie jetzt bekannt wurde, Ulrich Beck im Alter von siebzig Jahren gestorben.