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Zum Jahrestag des Massakers : Spaziergang in Babij Jar

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Eine Aufnahme der Schlucht aus dem Herbst des Jahres 1950: Das Bild zeigt Larissa Sadowskaja, deren Mutter in Babij Jar ermordet wurde

Eine Aufnahme der Schlucht aus dem Herbst des Jahres 1950: Das Bild zeigt Larissa Sadowskaja, deren Mutter in Babij Jar ermordet wurde Bild: Museum der Geschichte Kiews

Vor siebzig Jahren wurden hier mehr als 33.000 Menschen umgebracht. In nur zwei Tagen. Hier, in dieser Schlucht.

          7 Min.

          Bleibt ein Ort derselbe Ort, wenn man an diesem Ort mordet, verscharrt, sprengt, aushebt, verbrennt, mahlt, streut, schweigt, bepflanzt, lügt, Müll ablagert, flutet, ausbetoniert, wieder schweigt, absperrt, Trauernde verhaftet, später zehn Mahnmale errichtet, der eigenen Opfer einmal pro Jahr gedenkt oder meint, man habe damit nichts zu tun? Zur Schlucht Babij Jar fahre ich mit der U-Bahn. Sie liegt nicht mehr am Stadtrand. Die Großstadt Kiew hat Babij Jar längst umschlossen. Eine Tuborg-Bude, ein Kiosk, das Denkmal für die getöteten Kinder. Auf dem Podest liegt eine kleine blaue Socke. Jemand hat sie verloren. Mir fehlt Sauerstoff, ich kann diesen Ort nicht akzeptieren. Sportlerinnen joggen, Jungen spielen Fußball, Männer trinken Bier auf den Bänken, und Rentner sammeln Flaschen ein - der ganz gewöhnliche städtische Stoffwechsel. Babij Jar ist heute ein Park, und ich suche mir meinen Weg. Nein, ich werde mich nicht verlieren, ich habe mehrere Stadtpläne dabei, auch eine aktuelle „Sport-Orientierung in Babij Jar“.

          Vor vielen Jahren fragte ich David, einen alten Freund von mir, der immer an jenem Tag nach Babij Jar ging, ob er Verwandte hier liegen habe. Er antwortete: „Das ist die dümmste Frage, die ich je gehört habe.“ Ich verstehe erst jetzt, was er damit meinte. Es ist unwichtig, wer man ist und ob man hier „eigene“ Tote zu beklagen hat - das war für ihn eine Frage der „Anständigkeit“. Eigentlich wollte ich diese Geschichte auch so erzählen, als ob es möglich wäre, zu verschweigen, dass auch meine Verwandten hier getötet wurden, als ob es für mich möglich wäre, als ein abstrakter Mensch durch einen merkwürdigen Ort namens Babij Jar spazieren zu gehen. Babij Jar ist Teil meiner persönlichen Geschichte, und anderes ist mir nicht gegeben. Jedoch bin ich nicht deswegen hier, oder nicht nur deswegen. Vielleicht führt eine Art „Ehrenkodex“ bis ins zehnte Glied mich hierher, weil ich glaube, dass es keine „Verwandten von Fremden“ gibt, wenn es um Opfer geht. Jeder Mensch hat jemanden hier.

          Heute ist Babij Jar ein Park. Wem gehören die Opfer?
          Heute ist Babij Jar ein Park. Wem gehören die Opfer? : Bild: Christian Ganzer

          Ich dachte schon immer, dass die Juden im Ghetto eigentlich privilegierter waren. Man hatte mehr Zeit, um zu verstehen, dass man sterben wird. Zehn Tage nach dem Einmarsch der Deutschen in Kiew, Ende September 1941, wurde hier in Babij Jar, kaum vor den Augen der übrigen Stadtbewohner verborgen und mit „Hilfe“ westukrainischer Polizei, die ganze verbliebene jüdische Bevölkerung Kiews, die hier seit tausend Jahren Wurzeln hatte, getötet. Kiew, die älteste russische Stadt, wurde „judenfrei“. Ja, man nennt diese Opfer für gewöhnlich „Juden“, aber viele meinen damit nur „die anderen“. Das ist irreführend: Die, die da sterben mussten, waren einfach die Schulfreunde, die Kinder aus dem Hinterhof, die Nachbarn - die Omas und Onkel, die biblischen Greise, die man am Tag des 29. September auf den Straßen von Kiew in diesem endlosen Zug ihres eigenen Begräbnisses die Bolschaja Schitomirskaja entlanggehen sah.

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