Der Sternreisende
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Andrei Tarkowskis Verfilmung des Romans „Solaris“, 1972. Bild: Action Press
Zum hundertsten Geburtstag von Stanislaw Lem: Hatte dieser Visionär eine Weltanschauung?
Am 17. Oktober 1974 grüßt der Autor Stanislaw Lem den Kritiker Marcel Reich-Ranicki „mit gehörigem Respekt (jedoch ohne Furcht)“. Von seinen deutschen Kollegen weiß er, dass sie den Namen des Adressaten „nur flüsternd und mit Grausen in den Mund nehmen“, wofür er Reich-Ranicki „im Namen der breiten Masse meine Dankbarkeit ausdrücken“ will. Denn Literatur, findet Lem, bedürfe der gelegentlichen Züchtigung, um nicht den Kontakt zur Welt und zum Publikum zu verlieren. Falls sie ins All reist, dann nicht als Flucht, denn sie entkommt irdischen Sorgen nur, indem sie sich viel größere einhandelt. Der Kosmos lässt zum Beispiel weniger leicht mit sich reden als die Mitmenschen; eine Gesellschaft kann (zumindest theoretisch) aus ihren Krisen lernen, ein Kollapsar lernt beim Kollabieren dagegen nichts. Wer sich weit draußen auf Erfindungsreichtum, Zähigkeit und Mut unserer Spezies verlassen wollte, trüge nach Lems Ansicht nur idealisierte billige Fetische des sozial Vertrauten ins Unbekannte. Sein witzigstes Bild dafür ist der Ziegelstein, den einer seiner Astronauten auf „Fahrten in die kältesten Gegenden des Weltraums“ gelegentlich „in den Atommotor“ steckt, um ihn danach als tröstliche Wärmflasche zu gebrauchen.
Umfassende Finsternis, der unsere Intelligenz nur kleinste Lichter aufstecken kann, ist das Urelement von Lems Schaffen. Titel der Bücher dieses Schriftstellers, der am 19. September hundert Jahre alt geworden wäre, tönen oft in Moll: „Nacht und Schimmel“ heißen sie, „Fiasko“, „Die Technologiefalle“ oder „Das Katastrophenprinzip“. Wenn eines mal mit Tusch in Dur „Der Unbesiegbare“ heißt, dann handelt es davon, wie ein Meisterstück menschlicher Ingenieurskunst, dessen Name den Buchtitel abgibt, sich gegen Krabbelzeug nicht behaupten kann.
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