Erkenntniskritiker Hans Albert : Wie erkenne ich meine blinden Flecken?
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Tanz mit der Vernunft: Hans Albert Bild: Evelin Frerk
Bloß keine Zirkelschlüsse und Letztbegründungen: Zum Hundertsten von Hans Albert, dem Erkenntniskritiker in den Spuren Karls Poppers.
Dass es mit der Rationalität nicht weit her ist, zeigt der Kritische Rationalismus, ob in der Popper’schen Originalfassung oder unter deutscher Federführung in der Version von Hans Albert. Der schwergewichtige, schon von Ferne imponierende Begriff des Kritischen Rationalismus, den Helmut Schmidt als philosophisches Idol auch in die Politik hineintrug – Schmidt war bekennender Popperianer mit einem Faible zudem für Albert –, dieser Begriff möchte eigentlich nur davor warnen, erkenntnistheoretisch den Mund zu voll zu nehmen.
„Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und deshalb für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos“, heißt es in Alberts „Traktat über kritische Vernunft“. Dass auch das kritische Bewusstsein, auf das der gebürtige Kölner und von 1963 bis 1989 in Mannheim Soziologie und Wissenschaftstheorie lehrende Albert so große Stücke hält, stets etwas Selbstfabriziertes bleibt, stört ihn dabei ebenso wenig wie die Tendenz zur Überhöhung des Kritischen, das aus sich heraus ja keineswegs davor gefeit ist, auch falsche Unterscheidungen zu treffen. Indem Albert diese Fehlbarkeit der Vernunft als ihre Stärke beschreibt, weil sie das Procedere von Versuch und Irrtum antreibt und in Gang hält, legt er Rationalität dann doch auf einen positivistischen Horizont fest, den er gleichwohl vorgibt, biographisch hinter sich gelassen zu haben.
Strikt religionskritisch
In Zeiten von Fake News und Verschwörungstheorien nimmt sich solches Pochen auf empirische Nachweisbarkeit wie ein wohltuendes Ausnüchterungsprogramm aus. Albert hat stets gewusst, aus dieser Dialektik der Vernunft ein sprühendes Feuerwerk der Erkenniskritik zu machen, mit der konstruktiven Pointe, die blinden Flecken des eigenen Dafürhaltens nicht nur für möglich zu halten, sondern produktiv auszugleichen. Aber er scheut die Metaphysik als Irrationalismus und macht insoweit auch Jürgen Habermas den Vorwurf, mit seiner um den Religionsbegriff erweiterten Vernunftbestimmung die überkommenen Frontstellungen verraten zu haben. Es ist nach dem Positivismusstreit vor Jahrzehnten gewissermaßen das zweite theoriegeschichtliche Scharmützel, das Albert sich mit Habermas liefert.
Ich weiß, dass ich nichts weiß
Noch einmal: „Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und deshalb für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos.“ Was an dieser Aussage zunächst ohne weiteres für die Via negativa mystischen Denkens anschlussfähig erscheint, für die negative Theologie im engeren Sinne, das ist bei Albert doch strikt religionskritisch gemeint. Für ihn öffnet sich nach dem Abbau der begrifflichen Geländer nicht etwa der metaphysische Raum, sondern die Leere, die es nicht mit Zirkelschlüssen oder der Fiktion von Letztbegründungen zu verdecken gelte. In diesem Sinne hat er sowohl Hans Küng als auch Joseph Ratzinger als eine intellektuelle Provokation empfunden.
Summa summarum geht es Albert um einen Anti-Rationalismus, welcher der Vernunft nicht zu viel zutrauen möchte und eben darin, in diesem Bescheidenheits- und Stückwerkgestus, den vernünftigen Kern des Nachdenkens erblickt. Kritischer Rationalismus, das sieht Albert wie Popper, taugt begriffsstrategisch allemal mehr als die mäkelige Wendung vom Anti-Rationalismus. Es geht ihm, anders gesagt, um das sokratische „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. In Alberts inzwischen publiziertem Briefwechsel mit Popper und Paul Feyerabend, dem abtrünnig gewordenen Popperianer, wird dieses urphilosophische Motiv anhand von wissenschaftstheoretischen wie zeitdiagnostischen Beobachtungen zum Klingen gebracht. Hans Albert, der in Heidelberg lebt und nicht nachlässt in der Kunst, Argumente zu prüfen, wird am Montag hundert Jahre alt.