Endlich wieder 1970
Von NIKLAS MAAK7. April 2020 · Frankreich entdeckt in der Krise seine alten Zukunftsvisionen wieder – und will einlösen, was seine Moderne vor 50 Jahren versprach.
Es ist fast ein wenig rührend, wenn inmitten all der Corona-Horrornachrichten aus Frankreich, wo die Polizei die Strände gesperrt hat und kein Franzose sich mehr als einen Kilometer von seinem Wohnsitz entfernen darf – wenn also in diesen Zeiten der Architekt François Leclercq E-Mails verschickt und darin ankündigt, sein Büro sei dabei, im Süden Frankreichs, am Mittelmeer, nicht weit von Montpellier entfernt, eine ganz hinreißende Zukunftsstadt zu errichten – nicht auf der grünen Wiese, sondern mitten in La Grande Motte, einer der größten Feriensiedlungen der siebziger Jahre.
Das ist jetzt nicht der Ort, an dem man die Zukunft der Stadt gesucht hätte; was hier in den sechziger Jahren in einem trockengelegten Sumpfgebiet nahe der Camargue errichtet worden war, galt als Bausünde, als Monument des Massentourismus, der die Küste mit Betonburgen überzog, „La Grande Moche“, die „große Hässliche“, war noch eine der netteren Witze auf Kosten der Urlaubsappartements in Form von aztekischen Stufenpyramiden, die der Architekt Jean Balladur, ein Verehrer der wenige Jahre zuvor entstandenen Retortenstadt Brasília, entworfen hatte. Durch die Form der Häuser, verteidigte Balladur sich, hätten alle Wohnungen eine Sonnenterrasse und einen Blick aufs Meer. Gemessen an den verschlafenen Fischerdörfchen, die es hier früher gab, war die Retortenstadt 1968, als der erste Teil von La Grande Motte eröffnet wurde, trotzdem ein Schock: eine Stadt für den Massentourismus, den Charles de Gaulle mit Schrecken nach Spanien abfließen sah und gern wieder zurück nach Frankreich umleiten wollte.
Irgendwann um die Jahrtausendwende, als die Leute genug von der halbgaren Altstadtmimikry der Postmoderne hatten und der Retrofuturismus aufkam, galt die Betonmoderne der frühen siebziger Jahre dann plötzlich wieder als schick, und jetzt entdeckt man, dass Balladurs Entwurf allem entsprach, was man heute von Städten fordert: Die Autos bleiben weitgehend draußen, man kann alles zu Fuß erreichen, siebzig Prozent der Stadt sind Parks und Sportplätze. Balladur baute keine Schlafregale für Touristen, sondern eine echte Stadt mit Schulen, Geschäften, einem Theater und Kino – und die Häuser selbst waren, wenn man genau hinschaut, alles andere als triste Betonkisten: Die Muster der Fassaden waren von den Effekten der Op-Art inspiriert und erinnern an die optischen Illusionen des Barock – und das alles hinter sieben Kilometern feinsandigem Strand. Trotzdem sah La Grande Motte, wenn die Touristen weg waren, trist aus. Leclercq soll nun diese Urlaubsstadt weiter- und ausbauen, mit einem größeren Hafen, neuen Fußgängerpromenaden, vor allem aber neuen Häusern mit Wohnungen und Arbeitsplätzen, die aus der futuristischen Feriensiedlung eine echte Stadt und aus dem Glück auf Zeit einen Dauerzustand machen: Statt am Wochenende ans Meer zu fahren, sollen so viele Menschen wie möglich gleich dort leben und arbeiten und aus der Retro-Ikone eine Zukunftsstadt mit Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit machen: Wie wird man arbeiten nach dem Ende des klassischen Büros, wo will man sich treffen, wie wird man mit Freunden und anderen in neuen Konstellationen zusammenleben können? Hier soll es erprobt werden.
La Grande Motte war typisch für das Frankreich der späten sechziger und frühen siebziger Jahre, als der Wohlfahrtsstaat, aber auch die privaten Unternehmen sich die Demokratisierung vormals elitärer Genüsse zum Ziel gemacht hatten: Alle sollten sich eine Dachterrasse und einen Strandzugang leisten können. In diesem Jahr feiern etliche dieser Bauten und Produkte ihr fünfzigjähriges Jubiläum. Wie sehr ihre Versprechen nachwirken, zeigt sich auch daran, dass pünktlich zum Jubiläum zahlreiche Neuauflagen geplant sind; es scheint fast, als ob Frankreich seine Zukunft auf einem Umweg durch das Jahr 1970 formuliert. Nicht nur La Grande Motte soll weitergebaut werden; der Autohersteller Citroën schreibt einen Design-Wettbewerb für eine Neuauflage seines 1970 präsentierten Spitzenmodells SM aus, eines Sportcoupés mit Maserati-Motor, grünem oder braunem Veloursinterieur und hydropneumatischem Fahrwerk; stilvoller und futuristischer konnte man damals nicht von den brutalistisch eleganten Luxusappartementtürmen des Front-de-Seine-Komplexes in der Nähe des Eiffelturms (noch so ein Ding, das die Franzosen erst viel zu modern fanden und mehrheitlich abreißen lassen wollten und dann irgendwann doch mochten) zum Flughafen fahren, wo gerade das erste Überschallflugzeug, die Concorde, erprobt worden war, die 1976 den Linienverkehr aufnahm. Auch sie soll es wieder geben; Airbus will beweisen, dass grün nicht immer Entsagung und Tempoverlust heißen muss und hat sich eine „grüne Concorde“ mit Wasserstoffantrieb patentieren lassen. Und gerade wieder sind alle Einrichtungsmagazine voll von Fotos der „Dune“, einer dünenförmigen Sitzlandschaft des Designers Pierre Paulin, der vor einem halben Jahrhundert von Präsident Georges Pompidou beauftragt worden war, einige Räume des Elysée-Palasts in eine weiche, von Stoffpilzen, Tulpenstühlen und tiefen Teppichen bevölkerte Mondgrotte zu verwandeln.
Dass an all das jetzt angeknüpft werden soll, ist kein Wunder, denn vom hedonistischen Optimismus, der aus dem französischen Design des Jahres 1970 herausleuchtete, ist in Zeiten von Terrorangst, Gelbwestenprotesten und dem Aufstieg von Marine Le Pen nicht viel übrig geblieben. Der Blick in den Rückspiegel hat auch eine politische Dimension: SM und Concorde waren designerische und ingenieurstechnische Meisterleistungen, die sich eher an eine betuchte Klientel wandten, aber viele der 1970 formulierten Ideen stehen in einer langen französischen Tradition, moderne Freuden für alle zu fordern: Der Sozialutopist Charles Fourier hatte schon im frühen 19. Jahrhundert erklärt, fast alles an Versailles sei wunderbar gewesen, die Feste, das Genussorientierte und Libertinäre – nur eben nicht, dass all das auf Kosten der Ausgeschlossenen und Ausgebeuteten geschah. Fourier und seine Anhänger verlangten den Bau von „Phalansterien“ – Gebäuden, die stark an Versailles erinnerten und jeweils 1600 Arbeitern nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern auch Fest- und Ballsäle, Kindergärten, Schulen und allen erdenklichen Komfort bieten sollten. Leider vergaßen danach die meisten Architekten des sozialen Wohnungsbaus den Teil mit den Festen, dem Überfluss und der Großzügigkeit, mit den bekannten Folgen. Die Architekten, die um 1970, als man die Verheerungen des Unterbringungsfunktionalismus der Nachkriegszeit zu erkennen begann, neue Städte planten, versuchten es mit mehr Fourier: Jean Renaudie und Renée Gailhoustet, die in der Pariser Banlieue Ladenpassagen mit Terrassenhäusern überbauten, entwarfen eine Architektur, in der auch Arbeiter sich einen Dachgarten leisten konnten, Citroën lieferte das Auto dazu: 1970 erschien die GS, die nicht teurer als ein Golf war, aber die gleiche hydropneumatische Federung wie der luxuriöse SM hatte und wie ein Raumschiff über die Routes Nationales schwebte; mit ihr fuhren Arbeiter und Angestellte in Massen nach La Grande Motte.
Wo die Religionen und die Ideologien des 20. Jahrhunderts ihre Anhänger mit Heilsversprechen im Jenseits vertrösteten, bot Frankreich 1970 ganz im Sinne Fouriers Erfüllung im Jetzt: Bildung und Dachterrassen, TGV und Minitel - eine Art Internet, bevor das so genannt wurde – hydropneumatisches Schweben und Sommerurlaub für alle: Das war das Versprechen der französischen Moderne.
Wie ist es zu erklären, dass sich die Farben und die Haptik, sozusagen die Temperatur des Alltagsdesigns, in diesen Tagen von eiskalt zu heiß wandelten: War das ein Einfluss der Dunkelheit des Alls, durch das die Raumschiffe flogen, der warmen Rot- und Sandtöne des Mondes? Jedenfalls verschwand die metallische Grünglasklarheit der frühen sechziger Jahre zugunsten einer warmen Ästhetik in Sonnenuntergangsfarben. Die scharfen Kanten von Metallmöbeln machten den weichen Rundungen glänzender Plastikobjekte Platz, die Teppiche in Hotels und Hochgeschwindigkeitszügen waren orangegelb und sehr tief, Autos und Sonnenbrillen braunmetallic, innen dominierte warmes Velours, draußen die felsige Hyperphysikalität des Béton brut. Dass die Euphorie und Wärme des Designs dieser Tage verschwunden sind, lässt sich am Aussehen aktueller Gebrauchsobjekte erkennen: In Autos und Zügen findet man die deprimierend praktische Haltbarkeitsoptik von Funktionsjacken, dazu hellgraues Billigplastik, das an Prothesen erinnert und daran, dass nicht Schönheit, sondern eine Höllenmischung aus Gewinnerwartung, Sicherheitsvorschriften und Cost-Cutting die Form und Haptik der Dinge bestimmt. Ein effizienzgetriebenes Design, das das Geld, was etwas mehr Schönheit kosten würde, direkt in die Taschen der eigenen Auftraggeber schaufeln will, produziert eine ganz eigene Form von ästhetischer Trostlosigkeit: Die Dinge sehen so grauenvoll aus, weil an ihnen alles restlos weggespart werden muss, was irgendwie wegzusparen ist, um die Rendite zu steigern.
Dass sich gestalterische Mühe, die über das Notwendige hinausgeht, auf lange Sicht lohnt, zeigen Gailhoustets Liegat-Terrassenhäuser in Paris oder auch die „Choux de Créteil“ – 15-geschossige, runde Wohntürme mit Balkonen, die an halbierte Betontulpen erinnern und von dem Architekten Gérard Grandval entworfen wurden, der im Oktober neunzig wird: all sie sind längst Denkmäler der modernen Hoffnungen ihrer Zeit.
Viele waren ihrer Zeit voraus, wie [ET P.]La Grande Motte[/ET P.], die grüne Gartenstadt am Meer. Jetzt sollen sie mit neuem Leben gefüllt werden – und ihre Versprechen einer Moderne für alle wahrmachen. Das gilt nicht nur für die Architektur: Citroën will auch die Ente, das Auto für alle, neu erfinden, diesmal als Elektroauto namens „Ami“, das, wie einst die Ente, eine Art Regenschirm auf vier Rädern ist, mit dem man schwere Einkäufe nach Hause transportieren oder bei Regen das Kind oder einen Freund abholen kann: fährt nur knapp fünfzig Stundenkilometer, kostet aber auch nur 6500 Euro, und ist nur dann unsicher, wenn die anderen Verkehrsteilnehmer in zwei Tonnen schweren SUVs herumbrettern. In einer Stadt wie der neuen La Grande Motte soll dieses Vehikel alles sein, was man braucht, um vom TGV ans Meer zu kommen (oder zur Garage, wo die letzten Romantiker ihre SM-Sportcoupés für die große Fahrt parken).
Auch ein anderer Ort, der vor fünfzig Jahren entstand, wird gerade wiederentdeckt: Die Wissenschaftsstadt Sophia Antipolis bei Antibes, die auf 2300 Hektar Forschung, Wissenschaft und Unternehmen und Kultur zusammenbringen sollte – eine Art französisches Silicon Valley, als dort noch nicht mehr als ein paar Garagen standen. Heute siedeln immerhin über 2000 Unternehmen mit über 40.000 Angestellten in Sophia, letztes Jahr hat Mercedes Benz eine Designabteilung dorthin verlegt, vor ein paar Wochen wurde das MIA, die „Maison de l’Intelligence Artificielle“ eröffnet, und Präsident Macron träumt davon, dass hier, in Frankreich, die Grundlagen eines staatlich organisierten und gelenkten europäischen Techno-Booms gelegt werden, der es ermöglichen würde, die Datenhoheit in der Hand der Bürger zu lassen und sie nicht (wie in den Vereinigten Staaten) an private Konzerne oder (wie in China) an autoritäre Regimes abzugeben.
Was da versucht wird, ist ein dritter Weg für Europa, auf dem sich alles ändern würde – wie Entscheidungen getroffen, wie wir regiert werden, auch, wie wir uns fühlen, wenn wir kommunizieren und im öffentlichen Raum sind. Dass an der französischen Mittelmeerküste die Zukunft trotz allem ziemlich gut aussieht, liegt nicht nur an der Art, wie sie den Beton dort einst um sie herum gegossen haben.
Quelle: F.A.S.
Veröffentlicht: 07.04.2020 08:12 Uhr
