
Zustände in Zügen : Klagegesang eines Schaffners
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Irgendwie geht’s doch noch immer ins Helle, aber wann? Ein TGV der französischen Eisenbahngesellschaft Bild: Reuters
Was macht man als Zugbegleiter mit Berufsethos, wenn an einem winterlichen Vorabend nach stundenlanger Wartezeit eine ausgehungerte Fahrgastschar in die Waggons stürmt, aber kein Personal fürs Restaurant verfügbar ist? Man träumt.
Ein Vorabend im Großraumwagen, verspätet um mehr als eine Stunde, aber diesmal ausnahmsweise nicht im Liniennetz der Deutschen Bahn, sondern im pfeilschnellen TGV (Train à Grande Vitesse) auf der Schnellstrecke zwischen Paris und Straßburg. Schon vor der Abfahrt hat sich ein dreisprachiger Klagegesang des Zugbegleiters durch den Lautsprecher erhoben: Er sei allein, und das auf einer Fahrt mit zwei Garnituren, deshalb müsse man warten, bis ihm die SNCF, das staatseigene französische Eisenbahnunternehmen, wenigstens einen weiteren Kollegen beigeselle. Ja, es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.
Irgendwann geht es los, doch auch zwei Zugbegleiter auf einer Fahrt mit zwei Garnituren sind nicht viel. Zumal, wenn der eine weiterhin umstandsgemäß sein Leidenslied und Liebesleid intoniert. Denn was macht man als Schaffner mit Berufsethos, wenn an einem winterlichem Vorabend nach stundenlanger Wartezeit vor dem Perron eine ausgekühlte und -gehungerte Fahrgastschar in die zwar warmen Waggons gestürmt ist, die Restaurantwagen beider Zugteile aber mangels Personal nicht betrieben werden können? Man träumt. Nicht von einem besseren Arbeitsplatz, aber von einem besseren Arbeitgeber.
Das tun viele Franzosen derzeit, doch der polyglotte Zugbegleiter im personalentleerten TGV (Train à Grande Vacuité) leidet dabei nicht nur mit sich selbst, sondern auch mit seiner Kundschaft. In drei Sprachen erklärt er ihr, dass heute keine Bar im kulinarisch hochgerüsteten TGV Train à Grande Volupté) mehr öffnen werde, doch er empfiehlt, es sich im Sitz gemütlich zu machen, das großzügige Gratis-WLan-Angebot der SNCF anzuwählen, dann die Homepage einer beliebigen Bar aufzurufen – und den Rest der Fahrt nun selbst zu träumen.
O mitfühlende Muse
O Muse, der du als französischer Schaffner im TGV (Train à Grande Vanité) dein Dasein fristest! Singe mir weiter vom süßen Traumschlaf im verspäteten Hochgeschwindigkeitszug nach Stuttgart, der nur bis Straßburg fährt, wo ich aus deinen Händen, o mitfühlende Muse, der Deutschen Bahn übergeben werde, die nach drei Umstiegen in Regionalbahn, Nachtzug und S-Bahn mit dann fünfstündiger Verspätung gegen zwei Uhr morgens das Ziel erreicht, ohne dass irgendeine Durchsage, Homepage, App oder E-Mail ihre wissende, geschweige denn tröstende Stimme erhoben hätte, um über wechselnde Anschlussverzögerungen, Zugausfälle oder Fahrplanänderungen bei einer seit Monaten gebuchten Reise Kunde zu tun.
Und schon gar keine Stimme von Rang und Klang derjenigen des leidgeprüften französischen Zugbegleiters im TGV (Train à Grand Vaudeville), der je nach von ihm benutztem Idiom den beißenden Sarkasmus seiner Muttersprache übergehen lassen kann in wüste Publikumsbeschimpfung („Fuck you on this train“). Er heißt uns albträumen. Der letzte Traum vom Zugfahren, der bleibt.