Zu Besuch bei Thomas Piketty : Der neue Star der Intellektuellenszene
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Thomas Piketty, französischer Wirtschaftswissenschaftler, Professor an der Paris School of Economics und der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales Bild: Ed Alcock/M.Y.O.P./laif
Thomas Piketty ist der Ökonom der Stunde. Ausgehend von seinen Forschungen zur Ungleichheit, entwirft der Franzose pragmatische und kluge Lösungen für eine faire Verteilung der Lasten. Besuch in einer Denkerklause
Vor sechs Wochen wurde Thomas Piketty vom Fachmann zum globalen Intellektuellen promoviert. Da erschien die amerikanische Ausgabe seines im französischen Original bereits im vergangenen Herbst veröffentlichten tausendseitigen Buches über das „Kapital im 21. Jahrhundert“. Das dicke Fachbuch wurde ein Bestseller, der „New Yorker“, die „New York Times“ sowie alle anderen relevanten englischsprachigen Publikationen widmeten den Thesen des Buches breiten Raum, deutsche Medien zogen nach. So deutlich und in Echtzeit kann man solch einen Aufstieg sonst nie beobachten. Nun beginnt etwas Neues.
Intellektuelle funktionieren, wie regierende Politiker, auch als Datumsstempel: Mit ihrem Namen verbinden sich ganze Lebensspannen, Bilder, Texte und eine heute vielleicht schon historisch gewordene Weltanschauung. In Paris werben Plakate für das Programm einer Kabarettistin mit dem Titel: „Geboren unter Giscard“. Auch wenn kaum noch jemand viel über die Politik des Mannes weiß – als blitzschnell abrufbare, historisch-kulturelle Referenz (schwere Autos, Männer mit Koteletten auf Großwildjagd) taugt der Nachname allemal.
Sehnsucht nach den alten Zeiten
Mit den großen Namen aus der Welt des Geistes ist es nicht anders; auch Intellektuelle prägen die Zeit auch jener Zeitgenossen, die ihre Bücher nicht gelesen haben. In früheren Zeiten kamen beide bisweilen zusammen, früher oder später. Giscard war es gelungen, ans Totenbett von Jean-Paul Sartre zu gelangen, sehr lange saß er da.
Das war noch der Intellektuelle als Welterklärer von den Wurzeln des Bewusstseins her gewesen, einer, der ganz ohne Mathematik, ohne Feldforschung und ohne Lehrstuhl auskam. Weißes Blatt, Stift, Grundkenntnisse in Husserl und Descartes genügten: Wenn man nur radikal genug hinschaut, erkennt man dann den Grund des Seins? Und sieh da, er fand diesen Grund im Intellektuellen selbst: Erst durch den Sinn, den wir der Welt stiften, erhält die ganze Sache eine Bedeutung, wir sind frei.
Im Mai 1968 wurde das in der Praxis erprobt: Die geforderte und gelebte persönliche Freiheit war eine direkte Ableitung des Existentialismus. Die Familie mag die Keimzelle des Staates sein, aber wenn wir einen anderen Staat möchten, nicht mehr diese spätgaullistische Mafia, dann können wir auch schon mal damit anfangen, eine andere Familie zu gründen oder sie anders zu erleben. Der weitere Verlauf ist bekannt, die Dinge wurden leider kompliziert. Die Sehnsucht nach diesen Zeiten aber ist ungebrochen. Auf dem Friedhof Montparnasse bewohnen Sartre und Simone de Beauvoir das Grab Nummer eins; es liegt voller Zettel, Blumen und Briefe.
Ein echter Gezeitenwechsel
Nach Sartre begann in Frankreich die Blütezeit der akademisch bestellten Intellektuellen. Das Genie, sagte der große Althistoriker Paul Veyne, verbreitete sich damals wie eine Epidemie. Es war die Zeit von Bourdieu und Foucault, Deleuze und Guattari, Derrida und Barthes – ein phänomenaler Ausbruch. Sie zerlegten das Denken, die Begriffe und die Systeme, mit denen die Welt bis dahin erschlossen wurde, und sie reflektierten über ihr eigenes Feld, die Wissenschaften.
Und irgendwann, so Veyne, war die Zeit der Genies ebenso plötzlich wieder vorüber, wie sie begonnen hatte. Das hatten die allerdings auch selbst in die Wege geleitet: Die Wissenschaft wurde redlicher, besser – auch um den Preis, differenzierter zu operieren, und in ihrem Geltungsanspruch begrenzter. So wurde der Intellektuelle zum Experten. Nur noch wenige Restexemplare aus der Epoche der großen Allrounder bewohnen die medialen Biotope, schreiben Kolumnen oder werden in Fernsehstudios laut. Und von diesen wenigen genießt kaum noch einer autonome wissenschaftliche Anerkennung.
Und nun geht nach langer Zeit wieder einer den umgekehrten Weg: vom linken, in Paris bekannten Wirtschaftswissenschaftler zum Deuter unserer Epoche. Einen echten Gezeitenwechsel bedeute dieses Buch, jubelte Paul Krugman in der „New York Times“: Es werde die Ökonomie verändern und damit die ganze Welt.
Wer sind denn diese Leute?
Doch wer sich auf den Weg zu Piketty macht, könnte an ein Missverständnis oder einen Scherz glauben. Man muss zu einem Randbezirk des Pariser Univiertels Quartier Latin, der aussieht wie ein Randbezirk der Zivilisation: völlig leere Straßen, eine verwitterte Autowerkstatt und an einer Ecke ein schwarzer Rollkoffer, den jemand schon ziemlich lange unbeaufsichtigt lässt. Am Eingang der angegebenen Adresse steht eine grobe Holzhütte wie aus dem Baumarkt oder einem übermütigen Kunstprojekt. Daran wurde ein Schild angebracht, das dies als Eingang zur Paris School of Economics ausweist, jener komplizierten Dachorganisation mehrerer Lehrstühle, die Thomas Piketty im Auftrag des damaligen Premierministers de Villepin vor einigen Jahren ins Leben gerufen hat.
Sosehr Frankreich seine Intellektuellen noch weit über ihren Tod hinaus verehrt, so sehr werden die im Staatsdienst tätigen Denker im akademischen Alltag, einer althergebrachten schwarzen Pädagogik folgend, auf Minimalmaß zurechtgestutzt. Es gibt kein Sekretariat und keine wegweisenden Tafeln. Fragt man sich durch, so folgen bald die Kommentare: „Na, da werden wir wohl bald einen Wegweiser für all die Journalisten anbringen müssen, die zu Thomas wollen!“
Piketty bewohnt ein winziges Dienstzimmer, das kaum zur artgerechten Haltung eines mittelgroßen Säugetiers zugelassen werden dürfte. Wenn man einen zweiten Stuhl hineinstellt, lässt sich die Tür nicht mehr schließen. Er erzählt, noch immer ganz erschüttert, von einem unmoralischen Angebot: Veranstalter aus Hongkong hätten ihn zum Vortrag eingeladen und ein Honorar von hunderttausend Dollar geboten. Er kann sich gar nicht beruhigen: „Wer sind denn diese Leute? Wie kommen die auf die Idee, so viel Geld zu bieten und ausgerechnet mir? Haben die nicht gelesen, was ich schreibe? Worin liegt der ökonomische Sinn solcher Honorare, zumal das Angebot von Leuten kommt, die ihren Hausangestellten vielleicht zehntausend Dollar im Jahr zahlen?“
Das Bild einer Lawine
Pikettys Thema ist die Ungleichheit. Seit Jahren sammelt er Daten über das Geld der Welt, insbesondere über das der Reichen. Das ist nicht einfach; denn so omnipräsent und wirkmächtig sich das Kapital zunehmend erweist, so wenig untersucht ist es. Seit Jahren arbeitet er mit seinen Kollegen an einer Datensammlung, die die finanziellen Verhältnisse der Reichen abbildet. Er hat diese Erkundungen auch in historischen Epochen unternommen, in seinem Buch kann Piketty also eine historische Anatomie des Kapitals vornehmen, mit ausführlichen, nahezu philosophischen Betrachtungen zu Themen wie Rente, Steuern und anderem mehr.
Er versteht die Wirtschaftswissenschaften im Unterschied zu seinen Kollegen nicht als eine der hohen Mathematik verwandte schöne Kunst, sondern als Sozialwissenschaft, der es darum gehen sollte, mit realen Daten reale Probleme zu erörtern oder gar zu lösen. „Mir kam es immer mehr auf das Urteil der Kollegen in den Geschichtswissenschaften oder der Soziologie an als auf jenes der Wirtschaftswissenschaftler, die, obwohl – oder gerade weil – sie alle anderen Wissenschaften ignorieren, von nichts etwas verstehen.“
Was er herausgefunden hat, ist leicht zu verstehen, aber schwer zu beweisen und von nicht abzuschätzender Tragweite, denn es widerlegt die neoliberale Lehre, die uns nun schon so viele Jahrzehnte regiert. Es ist das Bild einer Lawine: Einmal ausgelöst, vermehrt sich die Masse des Kapitals schneller, als der Arbeitnehmer rennen kann. Wenn der Staat oder die Geschichte nicht regulierend eingreifen, wächst das Kapital immer schneller als alles andere, insbesondere der Ertrag der Arbeit. Das bürgerliche Leistungsprinzip ist dann ausgehebelt, wie jetzt schon in den südeuropäischen Ländern oder in Russland. Es ist egal, ob ihre Kinder eine gute Schule besuchen, sich Mühe geben, eine gute Stelle bekommen – wenn die Eltern nicht bereits reich sind, ist der soziale Aufstieg eine komplizierte und äußerst unwahrscheinliche Sache.
Alte Verhältnisse kündigen sich an
Auf unsere Zeit bezogen, bedeutet dies, dass die Lasten, die zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards als Kulturnation und Sozialstaat zu tragen sind, künftige Arbeitnehmer erdrücken werden. Und der Einfluss jener, die ihr Geld schlicht geerbt oder auf unmoralischen, ja, illegalen Wegen vermehrt haben, der Oligarchen und der Steuerhinterzieher, ist stärker als die matte politische Repräsentanz der ausgebrannten Mittelschichten. Öfter mal müde und abgespannt, volle Arbeitstage und doch regelmäßig zu Gast im Dispo? Dann empfiehlt sich diese Lektüre von „Capital au XXième siècle“, um zu kapieren, dass es mit individueller Work-Life-Balance, mit Coaching und Duftkerzen an der Badewanne allein nicht zu ändern ist.
Dass wir die jetzige Entwicklung, die Ausweitung der Schere zwischen Arm und Reich als Rückschritt verstehen, ist darauf zurückzuführen, dass die vergangenen Jahrzehnte eine historische Ausnahme waren. Die Abmilderung der sozialen Spannungen, der Aufstieg der Mittelklassen und das Maßhalten der Reichen verdankten sich nicht allein weiser Steuerung großer Männer, sondern historischer Kontingenz. Kurz gesagt, waren es der Zweite Weltkrieg und die Folgen, die zu einer historischen Ausnahmesituation führten, in der das Kapital nicht schneller wuchs als beispielsweise der Ertrag der Arbeit.
Doch nun kündigen sich die alten Verhältnisse wieder an, die aus den Romanen des neunzehnten Jahrhunderts, von Balzac und Jane Austen, die Piketty immer wieder zitiert. Bloß dass diese Dynamik zu Beginn unseres Jahrhunderts weitaus stärker wirkt, weil sie sich global entfaltet.
Weltweit harmonisiert
Besonders streng fällt das Urteil Pikettys über die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten aus, wo sich die politische Klasse, was die Vermögensverhältnisse betrifft, längst und wohl unwiderruflich in einer ganz anderen ökonomischen und sozialen Sphäre bewegt als jene, die sie zu repräsentieren hätte. Er weist nach, dass das einstige Land der Pioniere nur noch die Rentiers belohnt, und befürchtet, es könne zum stagnierenden alten Kontinent der neuen Weltordnung mutieren, in dem Dynastien wie die der Bushs und Clintons alternierend regieren und die großen Trends bestenfalls moderieren.
Pikettys wahres Engagement aber gilt Europa. Wir leben, seine Arbeiten zeigen es, auf einem der reichsten Flecken der Erde. Dass die öffentlichen Kassen leer, die politische Gestaltungsmacht schwach und die supranationale Zusammenarbeit kapriziös erscheinen, das ist allein ein Produkt der Politik der gegenwärtigen Regierungen, die alle ein Interesse daran haben, Europa schwächer dastehen zu lassen, als es ist.
Und fiskalisch, das betont er, ist unser Teilkontinent ein echtes Sieb: Luxemburg, Monaco, die Schweiz, die britischen Kanalinseln – wer seine Steuerlast minimieren will, muss nicht mal in irgendeinen Oligarchenstaat ziehen, er kann dies mitten in Europa tun und die Vorteile einer Zivilisation genießen, ohne dafür den angemessenen Anteil beizutragen. Für Piketty ist dies: reiner Diebstahl.
Dabei spart er allerdings auch nicht mit Kritik am staatlichen Umgang mit eingenommenen Geldern. Die Erfordernisse der Modernisierung und zur Transparenz politischen Handelns sind gerade vielen Verantwortlichen unter den Linken noch nicht genügend im Bewusstsein, klagt er. Er macht es sich nie einfach und bemüht sich geradezu obsessiv, pragmatisch und im Sinne des Common Sense zu formulieren. Am Ende des Buches aber gestattet er sich eine Utopie: eine progressive Steuer auf das Kapital, weltweit harmonisiert erhoben. Technisch und juristisch wäre das problemlos zu machen, politisch natürlich nicht.
In einer eigenen, abgeschlossenen Welt
Man kann darüber wehmütig werden: Die große Utopie unserer Generation ist eine neue Steuer? Sehen wir es so: Diese gleichmäßige Verteilung der Lasten sichert ein hart erkämpftes Zivilisationsmodell, das von allein unweigerlich erodiert. Die Aufgabe wäre, den historischen Augenblick, der vierzig Jahre währte, über sein Verfallsdatum hinaus zu perpetuieren, damit der demokratische, soziale und kulturstaatliche Rechtsstaat nicht in die Hände der Oligarchen, der Drogenbosse und Rohstoffkönige, der Jungs mit den schwarzen Geländewagen zurücksinkt. Und Piketty erinnert in seinem Buch außerdem daran, dass es stets Steuerfragen waren, die am Beginn von Revolutionen standen.
Pikettys Diagnosen und Vorschläge haben etwas bestechend Pfadfinderhaftes, man erkennt den Geist der Generation darin, so wenig antagonisierend, ganz und gar auf den kommunikativ erarbeiteten Konsens hin geschrieben. Meine Skepsis betrifft die Adressaten, die andere Seite des Gespanns aus Intellektuellen und Regierenden. Ich sage ihm, dass ich nicht glaube, dass die deutsche Bundeskanzlerin so denkt, in Dingen, die man tun, und in Schritten, die man gehen muss. Sie verdankt ihren Erfolg dem Nichtstun, dem Nichtssagen und der dilatorischen Politik, dem Aufschieben. Sie möchte gern im Amt bleiben, und das kann man am besten, wenn man möglichst wenig macht. Leider entspricht dies auch Pikettys Eindruck vom französischen Staatspräsidenten.
Piketty, der den Sozialisten nahesteht, beschreibt Hollande als einen „Meister der verbalen Pirouette, der es versteht, im Moment rhetorisch gut dazustehen, aber zwischen den Dingen und den Worten längst keinen Unterschied mehr zu erkennen vermag. Vor dreißig Jahren bezog François Hollande erstmals ein Büro im Elyseepalast. Heute ist er wieder dort, wenn auch in anderer Funktion. Er lebt und argumentiert in einer eigenen, abgeschlossenen Welt.“
Wir müssen es halt nutzen
Piketty entwirft unverdrossen Pläne, die die beiden umsetzen könnten, etwa den einer europäischen Budgetkammer, in der Abgeordnete aus den Haushaltsausschüssen der Parlamente der Euro-Staaten über europäische Budget- und Fiskalfragen entscheiden.
Europa, davon ist Piketty überzeugt, wird künstlich schwach gemacht: politisch schwach, aber auch wirtschaftlich schwach, obwohl es eines der reichsten Gebiete der Erde ist, mit einer gut ausgebildeten und einigermaßen friedlichen Bevölkerung. Harmonisiert und einigermaßen vernünftig regiert, könnte hier ein echtes Kraftzentrum der Demokratie, des Sozialstaats und der öffentlichen Kultur blühen. Aber es anders zu machen würde einen gewissen Aufwand erfordern, Unruhe bringen, und derzeit wird der Wähler behandelt wie ein schwer depressiver Patient: bloß nicht laut werden, bloß keine Zumutungen.
Pikettys Buch zeigt nebenbei auch, dass wir im intellektuellen Austausch zwischen Deutschland und Frankreich zurückgefallen sind. Hans Hütt, gelegentlich Autor auch in dieser Zeitung, wies auf den Umstand hin, dass Piketty in Deutschland erst auf dem Umweg über Amerika rezipiert wurde, die Originalausgabe blieb weitgehend unbemerkt. Und die deutsche Ausgabe steht noch in weiter Ferne, sein deutscher Verlag C.H. Beck will dieses so wichtige Werk erst irgendwann 2015 in deutscher Übersetzung herausbringen – so kann es zu keiner europäischen Debatte kommen.
Piketty ist müde, der plötzlich hereinbrechende Ruhm ruft auch Gespenster auf den Plan. Er muss sich mit seiner durchdachten, sozialdemokratisch-popperianischen Anthropologie des Kapitals plötzlich gegen den Vorwurf verteidigen, ein gefährlicher Linksradikaler zu sein, sein Wikipedia-Eintrag ist ein Tummelplatz der Trolle. Er macht sich mit einem aggressiv wirkenden Espresso aus einem kleinen braunen Plastikbecher Mut. Bevor wir uns verabschieden, äußert er noch einen Wunsch: „Könnten Sie bitte deutlich machen, dass ich ein optimistisches Buch geschrieben habe? Wir in Europa, wir haben alles, was wir brauchen. Wir müssen es halt nutzen.“