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„Zorn und Zeit“ von Peter Sloterdijk : Wenn ganze Kulturen sich beleidigt fühlen

Vor den neuen Zornkollektiven der Beleidigten, die sich gerade in den islamischen Ländern formieren, beschützt uns keine Kälte. Wir selbst müssen einen gerechten Zorn entwickeln - so Peter Sloterdijk in seiner neuen, gewaltig erzählten Zeitanalyse.

Vor den neuen Zornkollektiven der Beleidigten, die sich gerade in den islamischen Ländern formieren, beschützt uns keine Kälte. Wir selbst müssen einen gerechten Zorn entwickeln - so Peter Sloterdijk in seiner neuen, gewaltig erzählten Zeitanalyse. Bild: Suhrkamp

Vor den neuen Zornkollektiven der Beleidigten, die sich gerade in den islamischen Ländern formieren, beschützt uns keine Kälte. Wir selbst müssen einen gerechten Zorn entwickeln - so Peter Sloterdijk in seiner neuen, gewaltig erzählten Zeitanalyse.

          5 Min.

          Der Zorn hat keinen guten Ruf. Grundsätzlich sind wir, im produktiven Sinn, gar nicht mehr zornig, sondern beleidigt. Wir kennen nur noch die ressentimentbeladene Variante eines „gerechten Zorns“, der auf Vergeltung sinnt, es dem anderen heimzahlen will.

          Julia Encke
          Verantwortliche Redakteurin für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung in Berlin.

          Für Peter Sloterdijk, der in seinem sehr eindrucksvollen Buch eine Weltgeschichte des Zorns geschrieben hat, ist diese Austreibung des produktiven Zorns aus der Kultur lähmend. Anstatt aufwallende Energien kollektiv und domestiziert zu nutzen - er versteht Zorn im Sinne des antiken „thymos“ als in der Polis zivilisierte Form des Furors homerischer Helden -, zerstreuen wir unsere Kräfte wirkungslos. Die Empörung hat keine Weltidee vorzuweisen. Also habe mit großer Folgerichtigkeit „die Mitte, das formloseste der Monstren“, das Gesetz der Stunde erkannt: Gefragt seien belastbare Langweiler, von denen erwartet wird, an großen runden Tischen die Weltformeln des Ausgleichs zu finden.

          Schlechte Zorngeschäfte

          „Zorn und Zeit“ ruft nach der Rehabilitierung dessen, was Sloterdijk die „thymotischen Energien“ nennt. Das ist kein leichtes und kein selbstverständliches Projekt, hat der Zorn als politische Energie im zwanzigsten Jahrhundert doch Verheerendes angerichtet. Blickt man auf das vergangene Jahrhundert zurück, schreibt Sloterdijk, so drängt sich der Eindruck auf, daß in ihm die von Platon geforderte, von Aristoteles gelobte und von den Pädagogen des bürgerlichen Zeitalters praktisch versuchte Zivilisierung der Zorn-Energien in den Nationalstaaten gescheitert sei. Die starken Regungen der Menge für einen „Fortschritt“ zu nutzen schlug katastrophal fehl - egal ob die Manager der Zornpolitik rote oder braune Kittel trugen.

          Verheerend mußte diese Zornwirtschaft sein, weil sie eine Kriegswirtschaft des Ressentiments war. In großen, vom Furor seiner Metaphernwirtschaft zuweilen hinweggetragenen Kapiteln (Sloterdijk gefällt seine Allegorie von den verwaltenden „Weltbanken des Zorns“ so sehr, daß er das Vokabular, von der „Veruntreuung der Zornkapitale“ über „Thymosmonopole“ bis hin zu „thymotischen Renditen“, ausreizt) führt er diese These historisch aus. Zorngeschäfte wurden unter verhängnisvollen Vorzeichen durch die Jahrhunderte gemacht, wobei die Revolutionäre des neunzehnten Jahrhunderts das Versprechen endgültiger Gerechtigkeit, das die Kirche auf das Jenseits verschob, in die irdische „Geschichte“ verlegten. Lenin, Stalin und Mao sind für Sloterdijk „Weltgeistliche des Hasses“ mit „makelloser Rücksichtslosigkeit“.

          Uns steht noch einiges bevor

          Die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts gehen für ihn auf das Konto der modernen Radikalismen, „die dem kollektiven Zorn, unter idealistischen wie materialistischen Vorwänden, nie betretene Wege zur Befriedigung weisen wollten - Wege, die vorbei an moderierenden Instanzen wie den Parlamenten, den Gerichten, den öffentlichen Debatten, auf gewaltige Freisetzungen von ungefilterten Racheenergien, Ressentiments und Ausrottungswünschen zuliefen“. Betrachtet man die gegenwärtig freiwerdenden Rachenergien des Islamismus, wird deutlich, wie sehr das Ressentiment eine treibende Kraft ist. Uns steht noch einiges bevor.

          Es hieße Peter Sloterdijk aber mißverstehen, wenn man glaubte, es ginge ihm in „Zorn und Zeit“ nur deshalb um die Analyse der Zornwirtschaft des zwanzigsten Jahrhunderts, um düstere Szenarien für die Zukunft zu entwerfen. Die nahe Zukunft sieht tatsächlich düster aus. Es steht für ihn außer Frage, daß in Tausenden von Koranschulen, die überall dort aus dem Boden schießen, wo es Jungmännerüberschüsse gibt, weiterhin Märtyrer auf Heiligen Krieg getrimmt werden. Ein kleiner Teil werde zu terroristischen Zwecken eingesetzt, der größere in Bürgerkriege auf arabischen Territorium investiert werden - Kriege, von denen das iranisch-irakische Massaker von 1980 bis 1988 einen Vorgeschmack gegeben hat. Es steht für ihn auch außer Frage, daß Israel weitere Bewährungsproben vor sich hat, also ohne eine weitsichtige Politik der Abschottung gar nicht wird überstehen können. „Selbst Kenner der Lage“, so lautet die Diagnose, „besitzen heute nicht die geringste Vorstellung davon, wie der machtvoll anrollende muslimische youth bulge, die umfangreichste Welle an genozidschwangeren Jungmännerüberschüssen in der Geschichte der Menschheit, mit friedlichen Mitteln einzudämmen wäre.“

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