Martha Nussbaums Tierethik : Wozu wir fähig sind
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Martha Nussbaum in der römischen Accademia Nazionale dei Lincei, wo sie Ende November den Balzan-Preis entgegennahm. Bild: Balzan Stiftung
Gibt es das gute Leben aus dem Katalog? Ja, wenn die Liste der förderungswürdigen Bestrebungen ständig mit den Funden der Verhaltensforschung abgeglichen wird. Im Gespräch gibt die neue Balzan-Preisträgerin Martha Nussbaum einen ersten Einblick in ihr Buch über Tierethik.
Martha Nussbaums politische Philosophie ist auch ein Listenprojekt. Dessen Kernsatz lautet: Das gute Leben ist in seinen Merkmalen auflistbar, nicht im Sinne von inhaltlichen Glücksvorstellungen, aber von deren formalen Voraussetzungen. Das gute Leben wird von Nussbaum also nicht behandelt als individueller Präferenz-Dschungel wie im wirklichen Leben, als Schwanken der Bürger zwischen Privat- und Gemeinwohl, wie es der politische Ökonom Albert O. Hirschman in seinem Buch „Engagement und Enttäuschung“ schildert, wo es zentral auch um die Frage geht, warum jemand sich von Zielen abwendet, die er eben noch energisch anstrebte.
Das gute Leben erscheint in Nussbaums Listenprojekt gerade nicht in den Paradoxien persönlicher Glücksgewinnung, sondern als politisches Planungsprojekt. So wird es in einer Art vorläufiger Orientierungsskizze politisch und rechtlich handhabbar als ein Leben aus dem Katalog, und zwar aus einem Katalog von Fähigkeiten, die ausgelebt gehören, wenn jemand das Beste aus sich machen möchte, was in dieser Formulierung als entwicklungspsychologische Arbeitshypothese gesetzt ist.
Entsprechende Überlegungen stellt Martha Nussbaum seit Jahrzehnten als Befähigungsansatz (capability approach) weit über die akademischen Grenzen hinaus zur Diskussion, formuliert diese Überlegungen in Büchern aus, so auch in ihrem neuen, im Januar bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft erscheinenden Werk „Gerechtigkeit für Tiere“. Tatsächlich möchte die weltbekannte, mit Doktortiteln und Preisen überhäufte Philosophin über Gerechtigkeit für Mensch und Tier nicht anders sprechen als über ein Ensemble von förderungswürdigen Bestrebungen. Für deren Erfüllung gelte es, in komplexen, von der Entwicklungspolitik aufgegriffenen Verfahren gerechterweise nicht zu unterbietende Schwellenwerte festzulegen. Dabei wird die auf internationale Vergleichbarkeit angelegte Liste aller einschlägigen Bestrebungen ständig mit den Funden der Verhaltensforschung abgeglichen.
Ohne metaphysische Erklärungen
Seit den Neunzigerjahren verfolgt die Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der University of Chicago ihre diesbezügliche Utopie, die sie als virtuelle Verfassung zur gesetzgeberischen Sicherung eines würdevollen Daseins beschreibt und seit einem längeren Exkurs in ihrem Buch „Grenzen der Gerechtigkeit“ (2006) auch auf „nicht menschliche Tiere“ (Nussbaum) ausgeweitet hat. Wenn es nur gelänge, das, was seit Aristoteles als gutes Leben philosophisch beschrieben wird, in Form von Bestrebungen (philosophisch: Intentionen) zu listen, auf deren Erfüllung jedes empfindungsfähige Lebewesen einen Anspruch hätte, dann ließe sich eine gerechte Welt im Abarbeiten von Spiegelstrichen herstellen.
Es handelt sich um eine Theorie der Gerechtigkeit, die von metaphysischen Implikationen absieht, um als übergreifender Konsens im Sinne von John Rawls politisch operationalisierbar zu bleiben. Was genau mit der Empfindungsfähigkeit als Voraussetzung einer politisch-rechtlichen Inklusion gemeint ist, wird von Nussbaum selbst problematisiert und entlang der aktualisierten Wissensbestände über Mensch und Tier diskutiert. Der capability approach ist revisionsfähig und, wie gesagt, darauf angewiesen, auf den jeweils neuesten Stand der Verhaltensbeobachtungen gebracht zu werden. Nur so hat er Chancen, normative Kraft zu entfalten.
Martha Nussbaums tierethische Studien wurden entscheidend von ihrer verstorbenen Tochter Rachel Nussbaum beeinflusst, einer zumal meeresbiologisch ausgerichteten Tierrechtlerin, mit der die Mutter einschlägige Aufsätze verfasst hatte und der, wie sie im Gespräch erzählt, das neue Buch „Gerechtigkeit für Tiere“ gewidmet ist: „In Andenken an Rachel und für all die Wale“. Das von ihrer Tochter beförderte Thema empfindet Martha Nussbaum wie einen Prüfstein für den Befähigungsansatz, was die breitenwirksame Formulierung eines ethischen Wir jenseits anthropomorpher Wahrnehmungen betrifft. Tatsächlich hat das Verständnis von sozialer Gerechtigkeit durch die Schärfung der Kriterien in der Tierdebatte im Laufe der Jahre an philosophischem Profil gewonnen.