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Wirtschaftswachstum : Die unerwiderte Liebe der Menschen zum Kapitalismus

  • -Aktualisiert am

„Der große Gatsby“ - hier mit Leonardo DiCaprio - kündet auch vom Charme des Kapitalismus. Bild: ddp images/Warner Bros. Pictures

Die Menschen lieben die kapitalistische Wirtschaftsordnung. Sie drängen hinein, nicht heraus. Das kommt, weil die Regeln einfach sind und das materielle Ergebnis stimmt. Doch ist es ein Vertrag zu Lasten Dritter.

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          Die wohl größte Stärke des Kapitalismus - oder dessen, was dafür ausgegeben wird - ist seine überwältigende und nicht zuletzt deshalb für manche geradezu furchterregende Widerstandsfähigkeit. Er gedeiht überall, breitet sich aus und durchdringt jeden Lebensbereich. Ob in Europa oder Asien, ob im 19. oder 21. Jahrhundert, ob in den Glitzer-Avenuen oder Elendsquartieren dieser Welt - die Gefühls-, Denk- und Handlungsmuster, die gemeinhin als „kapitalistisch“ apostrophiert werden und die Ulrich Brand in dieser Zeitung mit der Formulierung „das bornierte Streben nach Profit“ auf den Punkt zu bringen versuchte, sind allgegenwärtig.

          Eine solche Erfolgsgeschichte nährt, auch wenn sie erst wenige Jahrhunderte währt, einen Nimbus. Der Kapitalismus, so will es vielen scheinen, ist unvergänglich, weil unüberwindlich. Mögen doch seine Gegner sich über ihn ereifern und ihn verfluchen, am Ende triumphiert er. Wo sind sie denn geblieben, die großen Lehrgebäude und Systeme, die gegen ihn in Stellung gebracht wurden - Sozialismus, Kommunismus und manches andere? Sie sind alle an ihm abgeprallt und letztlich gescheitert. Wie ein Chamäleon passt er sich umstandslos Kulturen und Zeitläufen an und schlägt Jahr für Jahr weltweit mehr Menschen in seinen Bann. Wie die Menschen im Kapitalismus - so wollen möglichst viele leben.

          Der Kapitalismus obsiegt

          Was ist sein Geheimnis oder zumindest sein Erfolgsrezept? Wo liegen seine scheinbar unerschöpflichen Kraftquellen? Die Antwort ist einfach, wenn auch für manche verstörend: Er kommt der großen Mehrheit zupass und bedient, wenn schon nicht ihre edelsten, so doch ihre stärksten Triebe. Das bornierte, sprich geistig beschränkte Streben nach Profit, soll heißen nach Vorteil und Gewinn, ist, anders als seine Kritiker meinen, nicht eine seiner Schwächen, sondern eine weitere Stärke. Denn das versteht jeder auf Anhieb: Konzentriere dich auf deinen eigenen Vorteil, und versuche, ihn gegen andere zu verteidigen. Du stehst im Mittelpunkt. Unter dem Strich zählst allein du.

          Zumindest in seiner heute dominanten Vulgärfassung sind die ethischen und moralischen Anforderungen des Kapitalismus gering. Längst vorbei sind die Zeiten, in denen es noch Teil seines ungeschriebenen Kodex war, dass der Erfolgreiche den weniger Erfolgreichen an seinem Erfolg teilhaben ließ - und zwar freiwillig. Ausgesprochen bescheiden sind auch seine intellektuellen Voraussetzungen. Während sich die Jünger sozialistischer Lehren jahrelang mit schwer verständlichen, auf wissenschaftlich getrimmten Theorien herumschlagen mussten, genügen dem Protagonisten des Kapitalismus ein paar simple Verhaltensregeln, die die meisten im Vorübergehen aufschnappen und selbst die Ungebildetsten in Kürze beherrschen.

          Zugleich ist das kapitalistische Belohnungs- und Bestrafungssystem von bestechender Schlichtheit. Lohn und Strafe stehen nicht erst in einer ferneren oder gar jenseitigen Zukunft an, sondern werden zeitnah erteilt. Und sie sind handfest. Der Kapitalismus belohnt und bestraft nicht spirituell-ästhetisch. Er belohnt und bestraft weitestgehend mit der Zuweisung oder der Vorenthaltung materieller Güter. Dass damit auch Fragen von Ansehen und Macht geregelt werden, steht außer Frage, ist aber für breite Bevölkerungsschichten nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Für sie zählt das saftige Steak, das flotte Auto und die erlebnisreiche Urlaubsreise. Und für alles das hat das kapitalistische Wirtschaftssystem bislang besser gesorgt als jedes andere.

          Es geht nicht ohne

          Das haben seine Kritiker häufig verkannt, und wenn sie es erkannt haben, haben sie es nicht einzuordnen vermocht. Selber in wuchtigen Gedanken- und Lehrgebäuden gefangen, fiel es ihnen schwer, das weithin Undogmatische, Spontane, intellektuell Unprätentiöse und in gewisser Weise Leichtfüßige, beinahe Flüchtige des Kapitalismus zu erfassen. In der Tradition des Marxismus versuchten sie den Kapitalismus wissenschaftlich zu durchdringen, Gesetzmäßigkeiten festzuklopfen und ihn auf diese Weise zu fixieren. Gebracht hat das wenig. Jedes Mal, wenn seine Kritiker glaubten, sein Räderwerk begriffen zu haben, hatte sich der Gegenstand ihres Interesses verändert.

          Entmutigt hat sie das nicht. Wie eh und je analysieren, systematisieren und reformieren sie unverdrossen weiter, wohl in der vagen Hoffnung, auf diese Weise eines hoffentlich nicht zu fernen Tages in eine bessere Welt vordringen zu können. Die wichtigsten Kritikpunkte sind geläufig, und Ulrich Brand zählt sie in seinem bereits erwähnten Beitrag alle noch einmal auf: die verhängnisvollen Wachstumstreiber Profit und Konkurrenz, die nicht minder verhängnisvolle Dominanz des Tauschwertes über den Gebrauchswert, die rastlose Suche des Kapitals nach Verwertung oder die inhärente Tendenz zur Überakkumulation und Überproduktion. In seiner Aufzählung fehlt so gut wie nichts - mit Ausnahme des Entscheidenden.

          Die ganze Kritik am Kapitalismus krankt daran, dass sie zwar eine Fülle seiner Mängel und Fehler zutreffend erkannt und beschrieben hat, aber nicht wahrhaben will - und um ihres Selbstverständnisses willen wohl auch nicht wahrhaben darf -, dass er sich in den Hirnen und Herzen von mittlerweile Milliarden von Menschen eingenistet hat und deren Denken, Handeln und Fühlen von Grund auf prägt. Diese Menschen mögen den Kapitalismus nicht lieben, möglicherweise verachten oder hassen sie ihn sogar. Aber sie können und wollen nicht von ihm lassen. Brand irrt, wenn er meint, die Menschen hierzulande würden in einer kapitalistischen Wachstumszange gehalten und Hunderte von Millionen würden in den kapitalistischen Arbeitsmarkt gezogen.

          Kaffee trinkt fast jeder, angemessene Preise für ihn zahlen will niemand.
          Kaffee trinkt fast jeder, angemessene Preise für ihn zahlen will niemand. : Bild: REUTERS

          Wenn das so zwanghaft wäre wie von ihm unterstellt, hätte er leichtes Spiel. Das aber hat er nicht. Die meisten drängen nämlich nicht aus dem Pferch, in dem er sie wähnt, und viele drängen sogar hinein. Denn sie sehen, dass es sich mit ein wenig Geschick und Glück dort ganz behaglich leben lässt. Wenn die Menschen wollten, könnten sie sich den Zumutungen des Kapitalismus durchaus entziehen. Aber die Mehrheit will nicht. Sie vertraut, wenn auch zunehmend zweifelnd, der Verheißung, dass alles immer noch besser werde. Und wer ist nicht gerne dabei bei jährlichen Lohn- und Rentensteigerungen, mehr Geld für Gesundheit und Bildung, leistungsfähigeren Infrastrukturen oder größeren staatlichen Leistungen!

          Das unterscheidet den Kapitalismus namentlich in den früh industrialisierten Ländern von allen bisher angebotenen Optionen: Die meisten Menschen machen willig und mitunter geradezu lustvoll mit. Hätten die Bürger beispielsweise im real existierenden Sozialismus ebenso bereitwillig mitgemacht, gäbe es ihn zweifellos noch heute. Stattdessen haben sie der Welt höchst eindrucksvoll vor Augen geführt, dass jedes System zu seinem Ende kommt, wenn es nicht mehr von breiten Bevölkerungsschichten getragen wird. Eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung ist ohne das Zutun vieler ein Nichts, eine bloße Chimäre. Diese Binsenweisheit gilt es wieder bewusst zu machen. Solange sie nämlich nicht beherzigt wird, sind alle Systemdebatten Scheingefechte.

          Eine neue Wirtschaftsordnung?

          Dieser Befund hat schwerwiegende Folgen. Denn ein System zu ändern, an dessen Wesenskern unzählige Menschen hängen, ist wahrscheinlich noch schwieriger, als ein System zu erhalten, dass von vielen abgelehnt wird. Doch Änderungen sind unvermeidlich und dringend. Je länger, je mehr wird nämlich manifest, dass das Expansive des Kapitalismus sein fortwährendes Höher, Schneller und Weiter einen Punkt erreicht hat, an dem nicht mehr nur Wohlstand gemehrt und ein besseres Leben ermöglicht, sondern zugleich die Lebensgrundlagen beeinträchtigt werden. Die Bundeskanzlerin fordert deshalb, dass noch in diesem Jahrzehnt eine Art des Wirtschaftens gefunden werden muss, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört.

          Viel dramatischer geht es nicht: Wir leben in einer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung, genannt Kapitalismus, die ihre Fundamente aktiv untergräbt! Doch fruchten solche Appelle offenkundig wenig. Von dem angepeilten Jahrzehnt ist mittlerweile fast die Hälfte vergangen, und der Zug fährt immer noch in die falsche Richtung. Die Menschheit beansprucht für ihre wirtschaftlichen Aktivitäten heute anderthalb Globen, und 2030 werden es voraussichtlich zwei sein, wobei es die wohlhabendsten Länder besonders toll treiben. Wirtschaftete die Weltbevölkerung beispielsweise wie die US-Amerikaner, brauchte sie mehr als vier, wirtschaftete sie wie die Deutschen, wären es noch immer zweieinhalb Globen. Dass das kein dauerhaftes Wirtschafts-, geschweige denn Lebensmodell ist, liegt auf der Hand.

          Das scheint auch die große Bevölkerungsmehrheit in Deutschland so zu sehen. 2012 wünschten sich nach einer Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung acht von zehn Bundesbürgern „eine neue Wirtschaftsordnung“. Zwei von drei Befragten glaubten nicht, dass der Kapitalismus für einen „sozialen Ausgleich in der Gesellschaft“, „den Schutz der Umwelt“ oder „einen sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen“ sorge. Auch misstrauten sie den Selbstheilungskräften des Marktes, die anstehenden Probleme in Wirtschaft und Gesellschaft zu lösen. Verflogen scheint schließlich die Gewissheit, Wirtschaftswachstum erhöhe die eigene Lebensqualität. Zwei Drittel der Befragten verneinten dies.

          Der geliebte Luxus

          Ist das die Wende, oder könnten dies wenigstens ihre Vorboten sein? Zweierlei lässt hieran zweifeln: zum einen die Einlassung aller bedeutsameren politischen Kräfte. Keine der größeren Parteien atmet diesen vermeintlich neuen Geist. Zwar finden sich in allen Lagern Individuen und Gruppen, die es ernst meinen mit dem Wandel. Aber tonangebend sind sie nirgendwo. Union und FDP setzen unverändert auf die Entfesslung der Marktkräfte und auf technischen Fortschritt. Die Grünen haben sich mit der gleichen Zielsetzung einem Technikoptimismus verschrieben, „der schon fast Angst macht“ (Brand). Und bei SPD und Linken dominieren diejenigen, denen Verteilungsfragen dringlicher erscheinen als die Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft.

          Schleicht die Politik in ihrem ganzen breiten Spektrum um jenen vielgepriesenen und -gescholtenen Kapitalismus wie die sprichwörtliche Katze um den heißen Brei? Dafür spricht in der Tat viel. Die Rechte, was immer darunter zu verstehen ist, duckt sich weg in der Hoffnung, der Sturm des Wandels werde schon irgendwann vorübergehen. Ihre Botschaft: Nur Mut. Harrt aus. Alles wird gut. Überzeugende Gründe für diesen Optimismus bleibt sie allerdings schuldig. Die Linke hingegen flüchtet sich, wie so oft in ihrer Geschichte, auch diesmal wieder in Utopien. Obwohl sie tiefgreifende Veränderungen in Aussicht stellt, sollen diese in den Worten Brands „nicht auf dem Rücken der Menschen ausgetragen werden“. Soll das heißen, „die Menschen“ könnten bei derartigen Umwälzungen ausgespart bleiben?

          Das wird schwerlich möglich sein. Wenn dennoch solche Postulate erhoben werden, sind sie diktiert von der Furcht, „die Menschen“ könnten auf Einschnitte in ihrer Lebensführung - weniger Autos, weniger Flugreisen, weniger Fleischkonsum und manches andere - abwehrend reagieren und die Politiker aller Couleur abstrafen. Da erscheint es politisch opportuner, entweder zu behaupten, alles könne und werde im Großen und Ganzen so bleiben, wie es ist, oder zu erklären, vieles werde sich zwar ändern, aber die Menschen erlitten dadurch keine Nachteile. Die Furcht vieler Politiker vor den Menschen scheint groß zu sein. Wie viel und welche Wahrheit vertragen sie? Und wie ist diese Wahrheit zu dosieren und zu verpacken? Nicht ohne Anlass treiben Fragen wie diese die Politiker seit langem um.

          Ein Symbol des Kapitalismus: Eine riesige Kugel bewirbt das Produkt des Cola-Herstellers Pepsi in Caracas, der Hauptstadt von Venezuela.
          Ein Symbol des Kapitalismus: Eine riesige Kugel bewirbt das Produkt des Cola-Herstellers Pepsi in Caracas, der Hauptstadt von Venezuela. : Bild: REUTERS

          Damit ist der zweite Grund angesprochen, der Zweifel an einer Wende, an einem wirklichen Gesinnungswandel breiter Bevölkerungsschichten aufkommen lässt. Es ist wohlfeil, einen größeren sozialen Ausgleich, mehr Schutz für die Umwelt oder einen sorgfältigen Umgang mit den Ressourcen zu fordern. Wird es jedoch ernst und erfährt der Lohnempfänger, dass er mit einem monatlich verfügbaren Haushaltseinkommen von knapp 2500 Euro zum wohlhabenden Teil der Bevölkerung gehört und folglich mehr zum „sozialen Ausgleich“ beizutragen habe, oder der Erholungssuchende, dass sein geplanter Mallorca-Urlaub die Umwelt erheblich belastet, schwindet bei den meisten die Veränderungsbereitschaft abrupt. So hatten sie sich das nicht vorgestellt.

          Fakt ist, dass ein Land wie Deutschland trotz Urban Gardening, Carsharing und was der hoffnungsvollen Zeichen mehr sind, noch längst keinen Abschied genommen hat von einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die beinhart die Grundlagen ihres eigenen Erfolges zerstört. Trotz aller Weltläufigkeit und Internationalität hat es sich eingesponnen in einen dichten Kokon von Selbstzufriedenheit und Selbstgerechtigkeit. Die Bevölkerung dieses Landes ist weithin blind für die Lebensbedingungen und Nöte der Völker um sie herum. Wie könnte sie sonst von Hungerlöhnen bei Mitbürgern sprechen, deren Kaufkraft dreißigmal so hoch ist wie die einer schwer arbeitenden kenianischen Teepflückerin oder einer Näherin in Bangladesch.

          Nur der Räuber lebt angenehm

          Die nüchterne und oft brutale Wahrheit ist: Beim derzeitigen Wissens- und Könnensstand ist der materielle Lebensstandard, den die Menschen in den früh industrialisierten Ländern pflegen - und zwar alle vom Millionär bis hin zum Grundsicherungsbezieher -, nur unter Bedingungen zerstörerischer Ausbeutung von materiellen Ressourcen, Umwelt und nicht zuletzt Menschen möglich. Die Bürger der früh industrialisierten Länder, die allesamt zum wohlhabendsten Fünftel der Weltbevölkerung zählen, erlitten vermutlich einen Schock, wenn sie ihren hehren Worten Taten folgen ließen und beispielsweise die afrikanische Teepflückerin und die asiatische Näherin menschenwürdig entlohnten oder für Rohstoffe Preise zahlten, bei denen auch Knappheits- und Umweltkosten berücksichtigt sind.

          Die Folge wäre eine Preis- und Kostenexplosion, gegen die es kein Aufbegehren gäbe. Denn ein Ausgleich wegen gestiegener Lebenshaltungskosten, wie er heute regelmäßig von Gewerkschaften und sonstigen Interessenverbänden gefordert und oft auch durchgesetzt wird, hätte keinen Adressaten. Das ist nicht, edel aber ehrlich: Wie die Dinge liegen, lebt eigentlich nur der homo rapax, der räuberische Mensch, materiell angenehm. Zwar ist das nicht neu, hat sich aber im Laufe der Zeit institutionell verfestigt und betrifft nicht mehr nur Individuen, sondern ganze Völker. Diesem homo rapax ist die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus auf den Leib geschneidert. Sie ist das Biotop, in dem er aufblüht.

          Nicht zuletzt bedingt durch überkommene ethische Normen gestehen sich nur wenige ein, dass der Wohlstand, den sie genießen, allenfalls teilweise auf eigener Tüchtigkeit, im Übrigen aber auf der fortdauernden Überforderung von Lebensgrundlagen und Mitmenschen gründet. Deshalb rotiert namentlich in früh industrialisierten Ländern unablässig eine Erklärungs- und Rechtfertigungsmaschinerie, die buchstäblich so alt ist wie Adam und Eva. Jahrtausendelang war es der Teufel, der den Menschen zur Sünde verführt hat. Der Mensch als solcher war gut. Jetzt ist es ein System, der Kapitalismus, das den Menschen zu fehlsamem Verhalten verleitet. Ohne dieses System wäre der Mensch ein anderer. Also nieder mit dem System.

          Ein freier Wille für den Wandel

          Wenn es doch so einfach wäre! Seit vielen Generationen bemüht sich vornehmlich die politische Linke, den Kapitalismus zu reformieren oder besser noch durch eine andere, humanere Ordnung zu ersetzen. Das Ergebnis dieses Mühens ist auf globaler Ebene ein totaler Fehlschlag. Wer kann, bereichert sich schamloser denn je. Das wohlhabendste Fünftel der Menschheit beansprucht mittlerweile 83 Prozent der Weltgütermenge. Für das wirtschaftlich schwächste Fünftel bleibt gerade einmal gut ein Prozent. Und was auf globaler Ebene gilt, setzt sich im binnengesellschaftlichen Bereich fort. Alles nur Fehlfunktionen eines Systems oder - in der Sprache der Technik - auch menschliches Versagen? Denn schließlich sind es Menschen, die Systeme so oder anders aufladen.

          Es sei wiederholt: Beim derzeitigen Wissens- und Könnensstand bedeutet jedes Wachstumsprozent, jede Lohnrunde, jede weitere soziale Wohltat oder jede zusätzliche öffentliche Leistung zwar nicht zwangsläufig, aber nach allen bisherigen Erfahrungen in der Regel eine Erhöhung des zerstörerischen Drucks auf die Lebensgrundlagen und damit eine Beschleunigung ihres Zusammenbruchs. Es kann ja sein, dass die Menschheit irgendwann so wissend und könnend sein wird, dass sie ihren materiellen Lebensstandard auch ohne Zerstörung und Ausbeutung von Natur und Mensch zu heben vermag. Aber noch ist sie hiervon weit entfernt. Bisher hat sie für die Mehrung ihres materiellen Wohlstands allenfalls kleine Abschlagszahlungen geleistet.

          Die Menschheit, mit den früh industrialisierten Ländern an ihrer Spitze, befindet sich damit in einem existentiellen Dilemma. Frönt sie weiterhin ihren räuberischen Neigungen und fährt fort, ihre Lebensgrundlagen zu überfordern, wird sie scheitern. Das muss sie aber nicht. Denn auch wenn die Gelehrten darüber streiten, ob der Mensch einen freien Willen hat, ist er doch nicht Sklave der von ihm selbst geschaffenen Ordnungen. Insoweit gilt für den Kapitalismus Ähnliches wie für den Krieg: Stell dir vor, es ist Kapitalismus, aber keiner lebt seinen Maximen. Das wäre sein Ende. Ein wirklichkeitsferner Traum? Vielleicht. Aber wenn es nicht gelingt, die tief verinnerlichten „kapitalistischen“ Denk-, Gefühls- und Handlungsmuster zu überwinden, können die Menschen noch so viel am System herumschrauben - sie werden keines ihrer Probleme lösen.

          Meinhard Miegel Jahrgang 1939, ist Ökonom und Sozialforscher sowie Vorstand des wachstumskritischen Thinktanks „Denkwerk Zukunft“. Miegel plädiert für einen Abschied von der Wachstumsideologie zugunsten immateriellen Wohlstands. Er war Sachverständiger in der Enquetekommission des Deutschen Bundestages zum Themenfeld „Wachstum Wohlstand Lebensqualität“. Im März 2014 erschien sein Buch „Hybris. Die überforderte Gesellschaft“ im Propyläen-Verlag, Berlin.

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