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Rezension: Sachbuch : Am Anfang war die Ostindische Kompanie

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Eine aufwendig gestaltete Geschichte der Aktiengesellschaft

          3 Min.

          Jakob Schmitz: Aufbruch auf Aktien. Vom Fernhandel zur Industrialisierung: England, Irland, Frankreich, Belgien, Luxemburg (Weltwirtschaft auf Wertpapieren, Band 1), Verlag Wirtschaft und Finanzen, Düsseldorf 1996. 497 Seiten, 320 DM.

          Risikobereite Finanziers sind in Deutschland noch eine Seltenheit. Ohne ihr Geld bleiben vielversprechende Ideen nur Ideen. Risikokapital ist hierzulande nicht nur ein Schlagwort, sondern mehr: Es ist inzwischen Synonym für einen Engpaß geworden, der die Entfaltungsmöglichkeiten der deutschen Wirtschaft stark behindert. Die Bereitschaft zur Bereitstellung von Risikokapital ist in Deutschland unterentwickelt. Das aber ist nichts Neues, sondern es ist seit jeher so. Aktienkulturen sind andernorts entstanden.

          Die älteste Aktiengesellschaft der Welt, schreibt Jakob Schmitz in seinem Buch "Aufbruch auf Aktien", sei die Holländische-Ostindische Kompanie. Schon 1602 haben Holländer ihre Überseegesellschaft als Aktiengesellschaft gegründet. Die Angelsachsen folgen wenige Jahre später. Den Aktiengesellschaften ähnliche Zusammenschlüsse, bei denen Ertrag und Risiko verteilt wurden, hat es allerdings schon Jahrhunderte früher gegeben. In Frankreich sind Gedanke und Praxis des Börsenspiels ein Importprodukt. Es sei, wie der Autor bemerkt, vom schottischen Finanzjongleur John Law Anfang des achtzehnten Jahrhunderts nach Paris gebracht worden.

          Eine bemerkenswerte Entwicklung von Aktiengesellschaften und Aktienmärkten beginnt. Vieles ist damals über Anteilsscheine finanziert worden: der Bau des Eiffelturms, der Handel mit fernen Ländern, Verkehrswege und künstliche Wasserstraßen. Wegen des scheinbar grenzenlosen Einfallsreichtums von Kapitalgebern und -nehmern bringt die Erforschung der Aktien-Historie so manche Kuriosität zutage: Selbst Friedhöfe sind über Anteilsscheine finanziert worden. Der Erfolg der Aktiengesellschaft als mitunter wagemutiges Finanzierungsinstrument ist mit wohlklingenden Namen und bahnbrechenden Vorhaben belegt: die Dampflokomotive Stephensons, der Gasmotor von Lenoir oder das kinematografische Verfahren der Gebrüder Lumière. Die Vorfahren der Guiness-Familie, die noch immer die Mehrheit an dem Brauerei-Konzern hält, sind mit ihren Bieren die reichsten Männer Irlands gewesen. Der Absatz des beliebten Getränks ist im 19. Jahrhundert so stark gewachsen, daß für die Familie die Expansion nicht aus eigenen Mitteln zu finanzieren gewesen ist; Guiness hat 1886 zur Aktiengesellschaft umgewandelt werden müssen.

          Das zeigt, immer hat es der Kapitalgeber bedurft, die Ideen und Vorhaben letztlich zum Durchbruch verholfen haben. Die Liste ließe sich - wie in dem üppig bebilderten Band von Schmitz nachzulesen ist - beliebig fortsetzen. Deutlich wird dabei: Die Geschichte der Wertpapiere ist Industriegeschichte. Mit dem Fernhandel, schreibt Schmitz, seien die Aktiengesellschaften erblüht; mit der Finanzierung über Aktiengesellschaften sei die industrielle Revolution erst möglich geworden. Andererseits haben die Aktien durch diese angesichts des starken Kapitalbedarfs eine erste Blüte erlebt. Kurzum - Fortschritt ist ohne Aktien nicht denkbar. Und das ist noch heute so. Dabei verbirgt sich hinter jedem Wertpapier eine komplexe und spannende Unternehmensgeschichte. "Die Faszination, sie Schritt um Schritt zu erkunden, läßt kaum jemanden jemals wieder los, der einmal damit begonnen hat", schreibt Schmitz, selbst passionierter Sammler der alten Anteilsscheine. In gut zwei Dekaden ist er zu einem Fachmann auf diesem Gebiet geworden.

          Wer an Aktien viel Geld verloren hat, mag diese Finanzierungsidee verfluchen. Er mag denen, die sich vom Spiel mit Seifenblasen berauschen, den Verstand absprechen. Er sollte dabei nur bedenken, daß auch das Klagen über Hausse und Baisse, über Spekulationsgewinne und -verluste nichts Neues ist: Wollust, Sintflut, Fäulnis, herankriechende Habgier, Schacherei und Schwindel - mit all diesen Begriffen sind die Auswüchse der Kapitalbereitstellung schon vor Generationen bezeichnet worden, die in ihren Exzessen so manchem den Kopf verdreht, insgesamt aber eine Entwicklung vorangetrieben hat, die bis heute die Fortschrittlichkeit eines Landes bestimmt. Wer heute über die Börsianer die Nase rümpft, weil er der homogenen Spezies, die nur darauf aus ist, aus Geld noch mehr Geld zu machen, nichts abgewinnen mag oder kann, der wird von Schmitz mit illustren Zitaten darauf hingewiesen, daß es der Skeptiker seit jeher viele gegeben hat. Zum Beispiel: "Ich vermag wohl die Wege der Himmelskörper zu berechnen, nicht aber die einer toll gewordenen Menge", soll Isaac Newton gesagt haben. Andere haben ganz Britannien "den gemeinen Reizen der Spielgöttin verfallen" gesehen.

          Die Aktienwelt von heute ist nicht besser oder schlechter geworden - nur etwas komplizierter. Das ist aus Schmitzens Opus mittelbar herauszulesen. Schindluder ist mit Aktien seit ihrer Geburtsstunde getrieben worden; von erbarmungslosen Machtkämpfen, waghalsigen Manövern, vom Börsenfieber, von Skandalen und Zusammenbrüchen läßt sich berichten. Die Börsenaufsicht ist immer so gut wie die Findigsten unter den Gemeinen, die Gewinnsüchtige zu prellen suchen, um das schnelle Geld zu machen. Alles in allem aber funktioniert das System - damals wie heute. In dem Buch "Aufbruch auf Aktien" ist das "Damals" nachzulesen. Die Historie ist - wenn auch ohne wissenschaftlichen Anspruch - amüsant, gut geschrieben und vielfältig aufbereitet. Die Bebilderung mit mehr als fünfhundert historischen Wertpapieren ist eine Augenweide. Weitere Bände sollen folgen. INGE KLOEPFER

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