: Ein Vertrag der Unaufrichtigkeit
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Die politischen Folgen seiner Theorien prägen noch heute den Alltag - so schnell wird die Welt John Maynard Keynes nicht vergessen. Und doch geben jetzt einige Jahrestage Anlaß, sich des großen britischen Ökonomen darüber hinaus in besonderer Weise zu erinnern. Vor siebzig Jahren erschien sein epochales ...
Die politischen Folgen seiner Theorien prägen noch heute den Alltag - so schnell wird die Welt John Maynard Keynes nicht vergessen. Und doch geben jetzt einige Jahrestage Anlaß, sich des großen britischen Ökonomen darüber hinaus in besonderer Weise zu erinnern. Vor siebzig Jahren erschien sein epochales Werk "The General Theory of Employment, Interest and Money", und vor sechzig Jahren, am 21. April 1946, starb der Wissenschaftler. Der Berenberg Verlag hat schon 2004 mit einer schönen Edition zweier Keynesscher Erinnerungsstücke ("Freund und Feind") einen Beitrag dazu geleistet, hinter dem Namensgeber der keynesianischen Theorie auch eine faszinierende Persönlichkeit zu entdecken: einen Beobachter mit Gespür für andere Menschen, einen großartigen Erzähler mit beißendem Sarkasmus, einen Bildungsbürger und schillernden Bohemien. Jetzt zieht der Verlag einen zweiten Trumpf hervor: eine von der Historikerin Dorothea Hauser edierte und kommentierte, vor allem um das voluminöse Zahlenwerk gekürzte Neuausgabe der 1919 verfaßten Streitschrift über "die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles".
Keynes war nach dem Ersten Weltkrieg als Vertreter des britischen Schatzamts an den Verhandlungen über den Friedensvertrag beteiligt. Der Vertrag, von dem schon Marschall Foch sagte, er sei kein Frieden, sondern "ein zwanzigjähriger Waffenstillstand", wurde am 28. Juni 1919 unterzeichnet. Neben der Kriegsschuldzuweisung an Deutschland und der grundsätzlichen Verfügung von Reparationspflichten enthielt der Vertrag vor allem Gebietsabtretungen und militärische Einschränkungen. Die Höhe der Reparationspflichten blieb zwischen den Siegermächten umstritten; sie wurde erst 1921 festgelegt - auf 132 Milliarden Goldmark, etwa das Dreifache des Bruttosozialprodukts, das Deutschland einschließlich seiner (nunmehr abgespaltenen) Kolonien 1913 erwirtschaftet hatte.
Paris war 1919, wie Hauser formuliert, "sechs Monate die Hauptstadt der Welt". Dreißig Länder waren geladen, eine Friedensordnung zu erarbeiten. Neben Regierungschefs und Ministern bevölkerten Tausende Beamte und Unterhändler die Stadt, Sachverständige und Berater, Bürokräfte, Lobbyisten, Journalisten. "Paris war wie ein böser Traum, und jeder Mensch dort war ein Kranker", beschreibt Keynes die Atmosphäre. Drei Männer erwiesen sich letztlich als entscheidend: der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der britische Ministerpräsident Lloyd George sowie Frankreichs Premierminister Georges Clemenceau. Keynes selbst trat kurz vor Abschluß der Verhandlungen im Protest von seiner Delegation zurück und machte sich daran, eine in verzweifeltem Pathos gehaltene Philippika gegen diesen "karthagischen Frieden" zu schreiben, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen und so womöglich Schlimmeres zu verhüten. Er gab das Buch im Eigenverlag heraus und bezahlte persönlich die Übersetzung in etliche Fremdsprachen.
In Keynes' Augen war der Vertrag eine Katastrophe: ein Werk der Unaufrichtigkeit, das die Vernichtung der deutschen Wirtschaft bezwecke, insbesondere des Überseehandels und der von Kohle und Eisen abhängigen Industrie - zum Schaden ganz Europas. Nicht nur werde Deutschland nie fähig sein, Reparationen zu zahlen, wenn ihm nicht gestattet werde, wirtschaftlich auf die Beine zu kommen und im Außenhandel die nötigen Mittel zu verdienen. Vor allem sei Europa mit seinen tiefen Verflechtungen auf die Funktionsfähigkeit der größten Volkswirtschaft angewiesen. Keynes erweist sich hier als klarer Proponent der europäischen Integration.
Vehement rügt der Ökonom die Ignoranz, mit der die Politik wirtschaftliche Folgen ihres Tuns unberücksichtigt läßt. Zudem fürchtet er die explosive Mischung von Reaktion und Revolution, die angesichts einer als erdrückend wahrgenommenen Last entstehen könnte. Nicht zuletzt argumentiert er moralisch: "Die Politik der Versklavung Deutschlands für ein Menschenalter, der Erniedrigung von Millionen lebendiger Menschen und der Beraubung eines ganzen Volkes sollte abschreckend und verwerflich sein, selbst wenn sie möglich wäre, selbst wenn sie uns reicher machte, selbst wenn sie nicht den Verfall der ganzen europäischen Kultur zur Folge hätte." Keynes wirbt dafür, die Reparationen auf 40 Milliarden Goldmark zu begrenzen, eine internationale Anleihe für den Wiederaufbau aufzulegen und eine Freihandelsregion zu gründen. Er appelliert an die Vereinigten Staaten, großzügig Hilfe zu leisten. Er bleibt unerhört. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Welt so weit, solche Wege einzuschlagen.
Auch in diesem Buch zeigt Keynes seine unvergleichliche Fähigkeit zur erquicklich polemischen Charakterisierung. Insbesondere Präsident Wilson geißelt er als völlig unfähigen, geistig unbeweglichen und eitlen Opportunisten, auf dessen naives Gutmenschentum und prekäre Interessenlage man letztlich mit einer Verklausulierung der Vertragsbestimmungen Rücksicht nahm, die "auch einige Klügere als den Präsidenten länger als eine Stunde hätte täuschen können". Von der neuen politischen Ökonomie, die das Handeln staatlicher Akteure systemisch beleuchtet, hätte Keynes nichts mehr zu lernen.
Seiner Schrift blieb nicht erspart, argumentativ mißbraucht zu werden - sie bot sich nur allzuleicht zum Beleg an, daß Deutschland dem Nationalsozialismus gleichsam anheimfallen "mußte". Hauser stellt daher schon im Vorwort klar: "Versailles allein läßt sich kein deutsches Fatum andichten." Und doch hat Keynes recht: In seiner Ökonomievergessenheit war der Vertrag nicht eben ein Werk politischer Klugheit.
KAREN HORN.
John Maynard Keynes: Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles. Neuausgabe mit Einleitung von Dorothea Hauser, Berenberg Verlag, Berlin 2006, 160 Seiten, 19 Euro.