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Ansichten und Ideologien : Wie woke wäre Brecht heute?

Vereinnahmen ließ er sich nur ungern: Bertolt Brecht, im Mai 1948 Bild: Allstar

Dafür oder dagegen? Im Streit der Ansichten, Überzeugungen und Ideologie werden auch die Klassiker in die Pflicht genommen.

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          Wahrlich, wir leben in empfindlichen Zeiten. Kränkungseifer stößt auf Opferehrgeiz. Die Funken, die beim Zusammenprall entstehen, fliegen bis in die hintersten Winkel der sozialen Netzwerke. Fast könnte man meinen, es herrsche allgemeine Entrüstungspflicht. Weh dem, der da eine glatte Stirn sein Eigen nennt!

          Denn eine glatte Stirn, das hat Bertolt Brecht in seinem berühmten Gedicht „An die Nachgeborenen“ festgehalten, deutet auf Unempfindlichkeit hin, also auf einen bedenklichen Mangel an Sensibilität und Nachdenklichkeit, von Entrüstung ganz zu schweigen. Ist nicht die Zornesfalte auf der Stirn fast schon zum Signum einer Generation geworden? Wer wollte in diesen Zeiten schon ungerunzelt am Rande stehen! Spitzt also die Ohren, ihr Glattstirnigen, und bessert euch, denn „Nicht unmöglich kann sein / Zu lernen, was Nutzen bringt“.

          Die große Kunst des Zusammenlebens

          Das ist schönstes Meister-Yoda-Deutsch und stammt aus einem der weniger bekannten Gedichte Brechts. Brecht fordert seine Zuhörer darin auf, ihre Beobachtungsgabe zu schärfen und „Forscher zu sein und Lehrer in der Kunst der Behandlung der Menschen. / Kennend ihre Natur und sie zeigend, lehrt ihr sie / Sich zu behandeln. Ihr lehrt sie die große Kunst /des Zusammenlebens“. Die Besten unter seinen Zuhörern, so Brecht frohlockend, sehe er gierig nach neuen Kenntnissen greifen: „Und schon studieren /Viele von euch die Gesetze des menschlichen Zusammenlebens, schon / Schickt Eure Klasse sich an, ihre Schwierigkeiten zu meistern und damit / Die Schwierigkeiten der ganzen Menschheit“.

          Das klingt ja gut, aber von wem und zu wem redet Brecht hier eigentlich? Lehrer? Politiker? Aktivisten? Was würde Brecht heute wohl sagen, wenn er zum Beispiel mitansehen müsste, wie nicht Erziehungsberechtigte aus der jüngeren Generation und schwer erziehbare Angehörige der älteren Generation einander absichtlich krachend missverstehen? Brecht, da ist sich zumindest Jürgen Hillesheim, der Leiter der Brecht-Forschungsstelle in Augsburg, sicher, wäre gewiss nicht auf Seiten der „sogenannten Wokeness“.

          Der Dichter, so Hillesheim, sähe die Bewegung als „Moralscheißerei“ und als „Ideologisierung mit totalitären Tendenzen. Das würde er nicht gutheißen. Er hat Spießbürger nicht gemocht.“ Das ist eine steile These, aber Brecht hatte nichts gegen steile Thesen. Einige seiner eigenen Thesen zum Theater und zum Wesen des Zuschauers hat er im Band „Der Messingkauf“ versammelt. Darin findet sich auch das zitierte Gedicht „Rede an dänische Arbeiterschauspieler über die Kunst der Beobachtung“. Es ist ein langes Gedicht, dem die Frage zugrunde liegt, wie man eigentlich erfolgreich für (oder gegen) eine Sache kämpfen will, wenn man keine Menschenkenntnis besitzt. „Aber Menschenkenntnis“, so Brecht weiter, „erwirbt nicht, / Wer nur sich selbst beobachtet“. Endlich einmal ein Satz, den jeder mit Fug und Recht auf sich selbst beziehen darf.

          Hubert Spiegel
          Redakteur im Feuilleton.

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