Folgen des Kinosterbens : Kinos zu, Kritik tot?
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Das Kino ist geschlossen: Kinozeitschrift leiden daher indirekt ebenfalls unter den Folgen von Corona. Bild: dpa
Filmbegeisterungsforen geraten jetzt in Not. Eine der wichtigsten Filmzeitschriften der westlichen Welt zieht sich sogar vom Kiosk zurück.
Ein Mann und eine Frau schweben über der zerstörten Stadt Köln am Ende des Zweiten Weltkriegs – dieses Bild aus „Über die Unendlichkeit“ von Roy Andersson ist in diesen Tagen, da der Film in vielen Ländern in die Kinos kommen sollte, häufig zu sehen. Es ist inspiriert von einem berühmten Gemälde von Chagall: „Über der Stadt“. Auch die amerikanische Zeitschrift „Film Comment“ hat das Motiv in der neuen Ausgabe auf dem Cover. Es passt zum Titelthema „Cinema in Isolation“ und hebt es zugleich in einen utopischen Schwebezustand auf. „Film Comment“ erscheint zum ersten Mal nur noch digital und danach bis auf weiteres gar nicht mehr. Das renommierte Magazin, das von der Film Society of the Lincoln Center herausgegeben wird und üblicherweise sechs Hefte pro Jahr produziert, ist „on hold“.
Damit zieht sich eine der drei wichtigsten Filmzeitschriften in der westlichen Welt vom Kiosk zurück. Das britische „Sight & Sound“ macht im Vergleich noch einen stabilen Eindruck, aber auch eine französische Institution wankt: Die „Cahiers du Cinéma“ erscheinen nach einem Eigentümerwechsel erst wieder im Juni, nachdem die bisherige Redaktion geschlossen zurückgetreten war. Zu Beginn dieses Jahres gingen die „Cahiers“ an ein Konsortium von zwanzig Leuten, darunter einige der reichsten Unternehmer des Landes, aber auch der Chef einer Versicherung, die viel Geld mit Filmproduktionen verdient. Die Redaktion sprach den Besitzern das Misstrauen aus. Ende vergangener Woche wurde ein neuer Chefredakteur vorgestellt: Der 47 Jahre alte in Spanien geborene Marcos Uzal hat zuletzt das Kino im Musée d’Orsay programmiert. Uzal soll nun bis Juni dafür sorgen, dass die „Cahiers“ wieder regelmäßig erscheinen können.
Heimkino nicht vergleichbar mit dem Lichtspieltheater
Sie sind seit ihrer Gründung im Jahr 1951 der Inbegriff der Cinephilie, also eines emphatischen Verhältnisses zum Kino als einer Kunst, die das ganze Leben durchwirkt. Weil in diesen ersten Jahren nach der Befreiung auch alle die späteren Stars der Nouvelle Vague in den „Cahiers“ ihre ersten Texte schrieben, weil Godard, Truffaut und Rivette als Kritiker begannen, bevor sie Filme drehten, hat diese Zeitschrift mehr als alle anderen eine mythische Aura. Die litt dann zwar durch einige stark ideologisierte Phasen nach 1968, aber die „Cahiers“ blieben bis zuletzt eine anspruchsvolle Publikumszeitschrift, die auch am Kiosk noch halbwegs funktionierte. „Film Comment“ hat im Vergleich zu den „Cahiers“ den Vorteil der englischen Sprache und damit eines weltweiten Publikums. Eine Stellungnahme vom 28.April deutet nun darauf hin, dass das Lincoln Center, die Trägerorganisation, die auf private Sponsoren angewiesen ist, die Zeitschrift als einen Programminhalt wie das derzeit geschlossenen Kino begreift. Es könnte also sein, dass mit der Wiederaufnahme des Kinobetriebs auch „Film Comment“ weitermachen kann.
Vorerst kann man über eine Gegenwartsdiagnose von Nick Pinkerton nachdenken, der in einem Essay unter dem Titel „Inside Man“ über das Gefühl schreibt, dass ihm Filmerlebnisse im Heimkino vorkommen wie Flugzeugfilme. Die kleinen Schirme, auf die man da starrt, sind das Gegenteil dessen, was nicht zuletzt auch die großen Filmzeitschriften nach dem Zweiten Weltkrieg als Kino verfochten.