Neue Fotos aus Auschwitz : Wie man sich vom Massenmord entspannt
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Heiterkeit nahe der Hölle: Karl Höcker inmitten von SS-Helferinnen Bild: AP
Fröhliche Mädels essen Blaubeeren, während nebenan Menschen in den Gaskammern sterben: Neu entdeckte, einzigartige Fotos aus dem Album des SS-Mannes Karl Höcker beschwören eine heile Welt, die die Hölle von Auschwitz einfach nicht wahrhaben will. Von Jordan Mejias, New York.
Es sind Schnappschüsse aus einem Urlaubsidyll, das eine heile Welt beschwört, auch wenn die Männer Uniformen tragen. Auf einem Holzgeländer sitzen, freundlich lächelnd um ihren Chef gereiht, adrett gekleidete SS-Helferinnen, alles junge Damen, die damals wohl Mädels hießen und sich die Blaubeeren schmecken lassen. Ein anderes Foto zeigt ebensolche Mädels, wie sie sich mit demselbem Uniformträger, der geschlossenen Auges den angenehmeren Seiten des Lebens nachzusinnen scheint, beim Sonnenbaden im Liegestuhl entspannen.
Und derart freundlich, heiter und sorgenfrei geht es auf insgesamt 116 Aufnahmen weiter: Ein Akkordeonspieler findet in einer Gruppe von SS-Offizieren, angeführt von hochdekorierter Prominenz, nicht nur ein dankbares Publikum, sondern offensichtlich auch gleich gestimmte Sangesbrüder. Ein Schäferhund gibt Pfötchen. Feierlich und in vollem Militärwichs samt Schaftstiefeln und Achselband zündet der Mann, der immer wieder auf den Bildern auftaucht, die Kerzen eines stattlichen Weihnachtsbaums (aber zum „Julfest“) an.
Abgekapselt von der Wirklichkeit
Dieser Mann heißt Karl Höcker, war bis zur Befreiung von Auschwitz Adjudant des Kommandanten, und diese Bilder stammen aus seinem Fotoalbum, das jetzt vom United States Holocaust Memorial Museum in Washington auf seiner Website (http://www.ushmm.org/) veröffentlicht wurde. Aufgenommen wurden die meisten, ab Juni 1944 bis kurz vor der Befreiung des Konzentrationslagers, auf der Solahütte und in ihrer Umgebung, einem Erholungsgebiet für SS-Männer und die weiblichen Angestellten der Organisation. Die Solahütte befand sich etwa dreißig Kilometer südlich von Auschwitz.
Judith Cohen, Historikerin am Washingtoner Holocaust Museum, bezeichnet im Gespräch mit dieser Zeitung den Bilderfund als einzigartig. Nichts lasse darin auf Greueltaten schließen. Zu sehen seien Menschen, die ein durch und durch amoralisches Leben führten, losgelöst von den Verbrechen, die in allernächster Nähe zur gleichen Zeit begangen wurden. Als sei er abgekapselt von jeder Wirklichkeit, zündet SS-Obersturmführer Höcker die Christbaumkerzen an, ganze drei Wochen vor der Ankunft der Sowjets. Die Mädels essen ihre Blaubeeren, während am selben Tag hundertundfünfzig neue Häftlinge ankamen, von denen die meisten sofort in die Gaskammern geführt wurden.
Grotesker Gegenentwurf
Cohen spricht von „Grautönen“, die jetzt dem Schwarzweißbild des Konzentrationslagers hinzugefügt würden und uns so mit Aspekten der Mordanstalt konfrontierten, die uns intellektuell vielleicht nichts Neues böten, aber nun doch in ihrer direkten Sichtbarwerdung höchst verstörend seien. Die einzigen bekannten Fotos, die Auschwitz vor der Befreiung zeigen, wurden von SS-Fotografen im Frühjahr 1944 bei der Ankunft eines Transports ungarischer Juden gemacht. Verwahrt wird jenes „Auschwitz-Album“ in der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem. Das neue Album wartet mit einem grotesken Gegenentwurf auf. Es lügt mit seinen Fragmenten der Wirklichkeit. Es dokumentiert ein Freizeitvergnügen, das in seiner betonten Harmlosigkeit die Hölle nebenan einfach nicht wahrhaben will. Es vergrößert zudem die Zahl der Fotos des Alltags im Konzentrationslager, wie Cohen ausgerechnet hat, um das Vierfache. Unter den Aufnahmen befinden sich auch acht von Josef Mengele, der bisher nur in Porträts zu sehen war.
Die auf sechzehn Kartonseiten verteilten Fotos wurden dem Museum im letzten Dezember von einem ehemaligen Angestellten des amerikanischen Geheimdienstes zugeschickt. Der Absender, der anonym bleiben wollte, verstarb im Sommer. Er war neunzig Jahre alt, als er sich von den Bildern trennte, und gab an, sie vor sechzig Jahren in Deutschland gefunden zu haben, in einer Wohnung, die er kurz nach dem Krieg in Frankfurt gemietet hatte.