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Chance zum Umdenken : Corona ist ein Zyklop

  • -Aktualisiert am

Schützt du mich, schütz ich dich: Mundschutzträgerin in Berlin. Bild: dpa

Wie klassifiziert man Risiken? Der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung greift zu Gestalten der griechischen Mythologie, die deutlich machen: Zurück auf normal ist keine Option. Ein Gastbeitrag.

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          Ein kurzes Zucken, der Hauch eines Nachbebens zog durch den Körper von Naoto Kan. Das war, als ich ihm das erste aus einem Hubschrauber geschossene Foto vom explodierten Reaktor zeigte. Ich begleitete den ehemaligen japanischen Ministerpräsidenten bei seinem Besuch des Tschernobyl-Museums in Kiew. Das Bild vom rauchenden Schlund des Reaktors hatte ihn, wie er später bekannte, zurückgeführt zu einem betäubenden Gefühl, das er in den Fukushima-Wochen ertragen musste. Als der Chef des Atomkonzerns Tepco erwog, sein Personal aus Fukushima abzuziehen und die Reaktoren sich selbst zu überlassen, hatte sich Kan die Frage gestellt, „ob Japan untergeht“. Das Gefühl, das sich seiner damals bemächtigt hatte, war das einer totalen Ohnmacht.

          Auch dem Corona-Virus steht die Politik ohnmächtig gegenüber, weltweit. Wir sehen erschöpfte Ärztinnen und Krankenpfleger mit den roten Druckstellen ihrer Schutzmasken im Gesicht. Wir sehen Kranke mit Atemnot, die von ihren Liebsten getrennt sind. Weltweit sind inzwischen mehr als zwei Millionen Menschen mit dem Coronavirus infiziert, Hunderte Millionen Menschen, wenn nicht Milliarden, fühlen sich bedroht. Und wie es weitergeht, weiß kein Mensch. Vertreter aus Wissenschaft und Politik, die sich so häufig in ihrer vermeintlichen Unfehlbarkeit gefallen, erzeugen heute paradoxerweise genau dann Vertrauen, wenn sie zugeben, was sie alles nicht wissen und dass man daher „auf Sicht fahren“ müsse. Es ist ein Moment des Kontrollverlusts. Aber nicht nur. Ist dies vielleicht auch noch etwas ganz anderes? Ein Moment des Aufwachens? Des Bewusstwerdens? Der Demut? Der gesellschaftlichen Solidarität, der Kreativität und der Hilfe? War die „Kontrolle“, die wir vor Corona zu haben meinten, vielleicht eine Illusion? Gibt es Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Risiken und Krisen, die uns herausfordern?

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