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Notre-Dame und die Gefühle : Das nationale Superzeichen

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Notre-Dame im Abendlicht am Montag, den 15. April 2019 Bild: EPA

Unsere Gefühle, unsere Identität: Notre-Dame war schon im 19. Jahrhundert eine Mittelalterphantasie, die große nationale Empfindungen produzierte. Wie echt ist die heutige Trauer um das zerstörte Monument? Ein Gastbeitrag.

          5 Min.

          Mittelalter ist am wirkungsvollsten, wenn es kaputt geht; am besten in Echtzeit, vor unseren Augen. So ist es offensichtlich auch ästhetisch am überzeugendsten. Und eindrucksvoll waren sie, die Bilder von der brennenden Notre-Dame, die sich, durch die Rauchsäule gewaltig vergrößert, plötzlich über Paris zu erheben schien wie ein Mahnmal ihrer selbst.

          Wer auf Instagram nachsieht, findet noch sehr viel mehr Fotos, Selfies vor Rauchwolke inklusive: Der Brand war eben nicht nur Unglück, sondern gleichzeitig auch eine Einladung, das eigene Gesicht per Bild und Klick an ein Großereignis zu heften. Mit Mobiltelefonen ausgerüstete Besucher waren vor Ort reichlich vorhanden: Paris wird jährlich von fast 18 Millionen Touristen besucht. Zwölf Millionen von ihnen besichtigen Notre-Dame.

          Ist das eigentlich auch die „Identität“, von der in den Berichten so häufig die Rede war und für die Notre-Dame so eindeutig stehen soll, wenn wir den Spezialisten glauben dürfen? Wer das I-Wort verwendet, meint gewöhnlich damit nichts anderes als: Ich fühle gerade so stark, dass ich mich gar nicht irren kann. Und in Sachen Emotionalisierung waren die Medienberichte kaum zu überbieten. „Feuer-Inferno“. „Paris trauert um seine Dame“. Einen Tag später: „Der Held von Paris: Priester rettet Krone Jesu aus Flammen-Hölle“ und „Das Wunder von Paris: Die Kathedrale hat das Höllen-Feuer überstanden“. Der Bindestrich zwischen Hölle und Feuer muss offenbar sein: Wiederauferstehung als Schlagzeile, drei Tage vor dem Karfreitag. Am Karsamstag die Krönung: „Mit Notre-Dame stand das Herz meiner frühen Kindheit in Flammen“.

          Jeder muss sich an die Bilder heften

          Kaum brennt sie, verwandelt sich die Pariser Kathedrale vom touristischen Hotspot in ein fragiles Opfer: Unersetzliche Verkörperung eines eher vage definierten christlichen Glaubens und gleichzeitig der französischen Nation. Das sahen auch Fachleute für ganz andere Emotionen so. „Betet für Frankreich“ hat der brasilianische Fußballer Neymar Junior – derzeit bei Paris St. Germain – auf Instagram geschrieben, plus einer Zeichnung vom weinenden Quasimodo, der die Doppeltürme umarmt. Sein Teamkollege Kylian Mbappé ergänzte eine französische Flagge mit einem weinenden Emoji; Frank Ribéry bekundete tiefe Traurigkeit mit betenden Händen auf Twitter, den Rest erspare ich Ihnen. Am Wettbewerb im Traurigsein vor möglichst großem Publikum nahmen nicht nur Politiker, Prominente, Milliardäre mit dickem Scheckbuch und anonyme Touristen teil, sondern auch die Kommunikationsunternehmen selbst. Die brennende Kathedrale war deshalb auch eine Lektion in Medienwissenschaft: Ein sich selbst vervielfältigendes mediales Super-Zeichen, an das man sich unbedingt dranhängen musste, um für den eigenen Namen etwas Aufmerksamkeit abzubekommen – 48, vielleicht 72 Stunden lang. Danach (das kennen wir) flaut es rasch ab, das viele echte Gefühl.

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