Mythos Schwabing : Die angeblich besseren Zeiten
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Schwabing in den Sechzigern: das italienische Eis-Café „Rialto“ Bild: INTERFOTO
Habermas hält Hof, Langhans fährt Fahrrad, Enzensberger überstrahlt das trübe Wetter: Schwabing ist seit jeher Münchens Ort des Geistes und der Libertinage. Doch lebt der Mythos noch, oder steht er kurz davor, in Ruhestand zu gehen?
Dass Schwabing mehr Mythos als Wirklichkeit ist, ein Viertel, das einmal weltberühmt war, aber keiner weiß mehr, wofür: das ist eine Wahrheit, von der man sich dort jederzeit überzeugen kann – an einem regnerischen Sommernachmittag zum Beispiel, es muss vor zwei Jahren gewesen sein, als ich, zu Besuch in München, am Kurfürstenplatz fast Wolf Wondratschek umgerannt hätte, weil der, ohne nach rechts oder links zu schauen, aus einem Laden herausgestürmt war. Und kaum war der Schrecken des nur knapp abgewendeten Unfalls verdrängt, kam Hans-Magnus Enzensberger auf der Hohenzollernstraße dahergeschlendert, freundlich lächelnd, in einem strahlend hellen Anzug dem trüben Wetter trotzend.

Redakteur im Feuilleton.
An der Ecke Wilhelmstraße nahm Rainer Langhans’ Fahrrad die Kurve mit Schwung, und Langhans schaffte es trotzdem, sofort anzuhalten, und hatte, schon weil er das seinem Ruf schuldig war, entspannterweise Zeit für einen kurzen Meinungsaustausch. Und abends, im wunderbaren italienischen Restaurant „Bibulus“ an der Siegfriedstraße, saß am Nachbartisch Jürgen Habermas mit Freunden oder Bewunderern. Und während ich auf die Tagliolini wartete, dachte ich: Schwabing lebt, immerhin. Aber demnächst wird es in den Ruhestand gehen. Und dass, wenn jetzt Peter Sloterdijk hereinkäme und mit Habermas zu streiten anfinge, es auch keinen hier beeindrucken würde.
Das Stammlokal der Filmer
Aber das letzte Mal, dass ich Peter Sloterdijk in Schwabing gesehen hatte, muss 1983 gewesen sein, im Café „Adria“ an der Leopoldstraße, einem italienischen Lokal, das bis drei Uhr morgens offen hatte, was in München damals die Ausnahme war; um ein Uhr morgens war Sperrstunde, wogegen schon deshalb nichts zu sagen war, weil sich das Nachtleben so auf die wenigen offenen Bars und Diskotheken konzentrierte (in Berlin war alles offen und alles leer). Ins „Adria“ ging man, weil man keine Lust hatte aufs „Parkcafé“ oder das „P1“ (oder gerade kein Geld dafür); und unvergessen sind die Nächte, da Peter Sloterdijk im „Adria“ saß, allein an einem der kleinen Tische, im roten Gewand der Sannyasins, mit einer Mala um den Hals. Aus der Perspektive von uns Studenten war er weltberühmt, weil gerade die „Kritik der zynischen Vernunft“ erschienen war. Aus der Sicht von uns Studenten passte aber dieses Outfit längst nicht mehr in die Zeit und schon gar nicht in die Suhrkamp-Kultur. Ein Denker in der Nacht musste aussehen wie Michel Foucault, Glatze, knapper Pullover, scharfgeschnittenes Jackett; oder wenigstens wie Peter Glotz, der, wenn man am nächsten Tag wieder zur Uni ging, seine Studenten dringend warnte vor dem Gift des französelnden Denkens. Und dazu konservativere Anzüge trug.
Die Leopoldstraße in den frühen Achtzigern war natürlich längst nicht mehr das, was Schwabing bis vor kurzem noch gewesen war. Die „Klappe“, das Stammlokal der Filmer und derer, die von ihnen entdeckt werden wollten, der Laden, in dem schon Punk aufgelegt wurde, als die Kinder aus den südlichen Vorstädten, die sich später als die wahren Punks aufspielten, noch nicht wussten, was eine Sicherheitsnadel war, die „Klappe“ hatte zugemacht; der Grund, so hieß es, habe mit viel zu viel Kokain zu tun gehabt. Und als das „Capri“, Stammcafé der Leute um Klaus Lemke, schließen musste, stand in der „S!A!U!“, Eckhart Schmidts Punk- und Filmzeitschrift, ein melancholischer Text, der daran zweifelte, dass die Leopoldstraße ohne das „Capri“ ein bewohnbarer Ort bleiben könnte.