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Psychologische Studie : Was die Kirche mit unserem Charakter zu tun hat

Der Petersdom als symbolischer Ort gesellschaftlicher Umstrukturierung: Deren mögliche Folgen untersucht eine aktuelle Studie. Bild: Marco Andreozzi

Menschen in verschiedenen Regionen der Welt unterscheiden sich in ihren Persönlichkeitsmerkmalen. Psychologen behaupten nun, den Individualismus und das analytische Denken der Europäer historisch erklären zu können.

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          Da haben wir uns immer für ganz normal gehalten, wir Bewohner von westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen und demokratischen Gesellschaften. Dabei hätte es uns bereits stutzig machen können, dass die Anfangsbuchstaben dieser Reihe von Attributen im Englischen das Wort „weird“ ergibt – „sonderbar“. Kanadische Psychologen haben das schon vor knapp zehn Jahren erkannt und daraus abgeleitet, dass viele psychologische Untersuchungen auf dem Studium von global nichtrepräsentativen Bevölkerungsgruppen, konkret von Westeuropäern und ihren insbesondere in Nordamerika und Australien lebenden kulturellen Nachfahren, beruhen. Diese seien aber individualistischer, weniger angepasst und in einem von der eigenen Person unabhängigen Sinne prosozialer als der Rest der Welt.

          Die Antwort auf die Frage, wie es zu dieser Besonderheit gekommen sein könnte, geben jetzt amerikanische und kanadische Wissenschaftler im Journal „Science“. Sie mag für uns, die wir so analytisch und kritisch sind, zumindest auf den ersten Blick erstaunlich sein: Schuld ist, so die Forscher, die Westkirche. Denn während des Mittelalters habe diese entscheidend Einfluss auf die vorherrschenden Familienstrukturen ausgeübt. Vorher hätten die Institutionen, die das menschliche Zusammenleben prägten, auf Familienbeziehungen beruht. Je stärker sich die Kultur im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelte, desto enger wurden demnach die familiären Netze gesponnen und durch Eheschließung zwischen Cousins und Cousinen gestärkt. Das Leben in so engen Familienbanden funktioniert indes nicht ohne die Bereitschaft zur Einpassung, zum Gehorsam, zum Nepotismus und gruppeninterner Loyalität.

          Dem setzte aber, gemäß der kulturellen Evolutionstheorie der Wissenschaftler, ab dem späten Altertum die heutige römische katholische Kirche ein Ende. Ihr Inzestverbot führte letztendlich zu Gesellschaften mit kleinen isolierten Haushalten, zwischen denen höchstens noch schwache Familienbeziehungen bestanden. Der soziale Rahmen für mobile, selbstbewusste Individuen war geschaffen. Die Daten – psychologische Studien, Eheregister, Studien zum historischen Einfluss der Kirche – scheinen den Forschern recht zu geben: Sie finden entsprechende Korrelationen auf der Ebene von Ländern, Regionen und auch für Individuen mit verschiedenem kulturellem Hintergrund. Und auch wenn bei solcherart Studien die Existenz mannigfaltiger unberücksichtigter Faktoren und die Gefahr von Überinterpretationen stets bedacht werden muss: Dass der Schlüssel zu unserer sonderbaren westlichen Identität sich bereits im dritten Buch Mose finden soll, ist doch zumindest eine wunderbare Geschichte.

          Sibylle Anderl
          Redakteurin im Feuilleton, zuständig für das Ressort „Natur und Wissenschaft“.

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