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Fragen Sie Slavoj Žižek : Warum feiern Atheisten Weihnachten?

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Aus dieser Krippe in Greifswald wurde das Jesuskind gestohlen. Fehlt dem Weihnachtsfest nicht auch etwas ohne den christlichen Glauben? Bild: Picture-Alliance

Auch etliche Atheisten begehen Weihnachten mit allem christlichen Drumherum. Aber warum eigentlich? Für die Kinder? Wegen der Geschenke? Der Philosoph Slavoj Žižek gibt Antworten.

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          In einer bekannten Anthropologenanekdote antworten sogenannte Primitive, denen man abergläubische Vorstellungen zuschreibt (dass sie zum Beispiel von einem Fisch oder einem Vogel abstammen), wenn man sie direkt danach fragt: „Natürlich nicht, so blöd sind wir nicht, aber wir haben gehört, dass einige eurer Vorfahren das tatsächlich geglaubt haben.“ Sie übertrugen also ihren Glauben auf einen anderen. Machen wir nicht dasselbe mit unseren Kindern? Wir feiern Weihnachten oder das Nikolaus-Ritual, weil unsere Kinder daran glauben (sollen) und wir sie nicht enttäuschen wollen; aber sie geben nur vor, das zu glauben, um uns nicht zu enttäuschen (und natürlich, um Geschenke zu bekommen).

          Ist es nicht dieses Bedürfnis, jemanden zu finden, der „wirklich glaubt“, das uns auch dazu treibt, den anderen als religiösen oder ethnischen Fundamentalisten zu stigmatisieren? Auf unheimliche Weise scheint Glaube immer auf Distanz zu funktionieren. Damit er funktioniert, muss es einen ultimativen Garanten für ihn geben, einen wahren Gläubigen, doch ist dieser Garant nie persönlich anwesend. Das Subjekt, das wirklich glaubt, muss also überhaupt nicht existieren, damit der Glaube wirksam ist. Es reicht aus, seine Existenz vorauszusetzen, als mythische Gründergestalt oder als ein unpersönliches „man“.

          Weiß Gott, dass er nicht existiert?

          Das scheint heute der dominierende Status des Glaubens zu sein, in einer Zeit, die für sich die Bezeichnung „postideologisch“ reklamiert. Vielleicht erscheint „Kultur“ deshalb auch als zentrale lebensweltliche Kategorie. Wir glauben nicht länger „wirklich“, wir folgen bloß einigen religiösen Sitten und Bräuchen aus Respekt für die Lebensweise der Gemeinschaft, zu der wir gehören. „Ich glaube nicht wirklich daran, es ist nur ein Teil meiner Kultur“ erscheint als dominante Form des verschobenen Glaubens. „Kultur“ ist der Sammelbegriff für all die Dinge, die wir praktizieren, ohne an sie zu glauben oder sie ernst zu nehmen. Deswegen lehnen wir fundamentalistische Gläubige als „Barbaren“ ab, als Bedrohung unserer Kultur - sie wagen es, ihren Glauben ernst zu nehmen.

          In einem klassischen Psychiatriewitz wird ein Mann, der glaubt, ein Samenkorn zu sein, in eine psychiatrische Anstalt eingeliefert, und die Ärzte geben ihr Bestes, um ihn davon zu überzeugen, dass er kein Samenkorn ist. Als er davon geheilt ist und die Anstalt verlassen kann, kommt er jedoch sofort vor Angst zitternd wieder zurück. Vor der Tür stehe ein Huhn, er habe Angst, von ihm gefressen zu werden. „Sie wissen doch“, sagt der Arzt, „dass Sie kein Samenkorn sind, sondern ein Mensch.“ „Natürlich“, antwortet der Mann, „aber weiß das Huhn das auch?“ Wir können uns einen vergleichbaren Fall auch mit Gott anstelle des Huhns vorstellen. In einer aufgeklärten Gesellschaft des revolutionären Terrors wird ein Mann ins Gefängnis geworfen, weil er an Gott glaubt. Mit verschiedenen Maßnahmen, vor allem durch eine aufklärerische Erklärung, wird er zur Gewissheit geführt, dass Gott nicht existiert. Kaum entlassen, kommt der Mann zurück und erklärt, er fürchte, von Gott bestraft zu werden. Natürlich weiß er, dass Gott nicht existiert - aber weiß Gott das auch?

          Man muss an den Glauben glauben

          In genau diesem Sinn ist unsere Gesellschaft womöglich weniger atheistisch als alle vor ihr. Wir sind alle bereit, uns totaler Skepsis, zynischer Distanz, „illusionsloser“ Ausbeutung anderer, extremen Sexualpraktiken oder sonst etwas hinzugeben - geschützt von dem schweigenden Bewusstsein, dass der große Andere (die öffentliche Meinung) es ignoriert.

          Niels Bohr, der die richtige Antwort auf Einsteins Satz „Gott würfelt nicht“ gab („Sag Gott nicht, was er tun soll!“), lieferte auch das perfekte Beispiel dafür, wie eine fetischistische Verleugnung des Glaubens in der Ideologie funktioniert. Als er ein Hufeisen über dessen Tür sah, sagte ein überraschter Besucher Bohrs, er teile den Aberglauben nicht, dass es Glück bringe, worauf Bohr entgegnete: „Ich auch nicht, es hängt da nur, weil ich gehört habe, es funktioniere auch dann, wenn man nicht daran glaubt.“

          So funktionieren wir heute alle. Nur wenige glauben wirklich an die Demokratie, aber wir beteiligen uns an dem Spiel. Nur wenige glauben an Gerechtigkeit, aber wir verlassen uns auf unser Rechtssystem. Dieses Paradox macht deutlich, auf welche Weise ein Glaube eine reflexive Haltung ist. Es geht nie allein ums simple Glauben, man muss an den Glauben selbst glauben. Deswegen hatte Kierkegaard auch recht, als er behauptete, dass wir nicht wirklich (an Christus) glauben, sondern nur glauben, dass wir glauben. Und Bohr konfrontiert uns mit der logischen Negation dieser Reflexivität: Man kann an jemandes Glauben auch nicht glauben.

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