Der 9. November : Das Märchen vom Schicksalstag
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Auch ein Geschichtsort: die Glienicker Brücke, zum 25. Jahrestag des Mauerfalls frisch restauriert Bild: dpa
Die Absicht war ehrenhaft, doch leider muss man feststellen: Die Wahl des 9. November zum gesamtdeutschen Gedenktag war ein Fehler. Sie vermittelt ein falsches Geschichtsbild. Ein Gastbeitrag.
Der 9. November ist der 'Schicksalstag' der Deutschen, so die Stilisierung der Sinnstifter der Berliner Republik. Er sei ein kritischer Nachdenktag über die Vergangenheit, der die Genese des modernen, demokratischen Deutschlands erkläre und Demokratie lehre. Alles sehr ehrenwert, in Wahrheit jedoch vermittelt der 'Schicksalstag' ein politisch genehmes, wissenschaftlich zweifelhaftes Geschichtsbild, das im Jahr 2014 zu immer mehr geschichtspolitischen und gesellschaftlichen Spannungen führt.
Die 9. November der Jahre 1848, 1918, 1923, 1938 und 1989 werden von den Volkspädagogen Deutschlands in eine Reihe gestellt, als ob die jeweiligen Ereignisse rein zufällig am 9. November vom Himmel geregnet seien, oder als ob deren Aneinanderreihung unweigerlich und gottgegeben sei: Schicksal eben.
Tatsächlich handelt es sich um eine mythenbeladene Inszenierung von Kontinuitäten der deutschen Geschichte durch einflussreiche westdeutsche Geschichtsdeuter aus der Dekade nach dem Fall der Mauer. Hierbei wurde eine Geschichte erzählt, die identitätsstiftend und programmatisch für das neue, vereinte Deutschland sein sollte. In der Form eines Märchens mit Happy End wird die Geschichte erzählt, wie Deutschland nach dem Sündenfall endlich am Ziel, im Westen, angekommen sei. Doch diese Geschichte steht mit den Lebenserfahrungen vieler Ostdeutscher in Konflikt und listet den 9. November 1989 nur ‚unter ferner liefen’.
Die Wirkung der kleinen Veränderungen
Auch steht sie in Opposition zu neueren Ergebnissen der historischen Forschung. Sie suggeriert deutschen Schülern die vermeintlich wichtigsten Wendepunkte der deutschen Geschichte und verstellt den Blick auf ebenso bedeutende Wendepunkte. Ferner ist sie mit ihrem Glauben an das Primat der Strukturgeschichte, die gelegentlich von großen Wendepunkten unterbrochen wird, blind dafür, dass die größten Veränderungen nicht nur durch große Ereignisse geschehen.
Viel öfter sind viele der wichtigsten Transformation Resultat des kumulativen Effekts einer Unzahl kleiner und inkrementeller Veränderungen, Entscheidungen und sozialer Interaktionen, die unter dem Deckmantel scheinbarer Stabilität oder Stasis stattfinden. Das Resultat: Der Fokus auf die 9. November der Jahre 1848, 1918, 1923, 1938 und 1989 bringt ein historisch arg fragwürdiges Narrativ über das Entstehen des modernen Deutschlands hervor.
Dies alles ist schon bedenklich genug.
Noch bedenklicher ist, dass unter den Teppich gekehrt wird, dass der 9. November als Schicksalstag der Deutschen eine Inszenierung der NS-Propaganda ist. Schon in den zwanziger Jahren sprach Hitlers Chefideologe Alfred Rosenberg vom 9. November als ‚Schicksalstag’. In seiner Endform bestand er aus einer Aneinanderreihung der 9. November der Jahre 1918, 1923 und 1938. Der 9. November als Schicksalsdatum der Deutschen ist also weder gott-, noch zufall-, sondern nazigegeben.
Nachwirkungen einer alten Choreographie
Nun fiel die Ausrufung der Revolution 1918 rein zufällig auf den 9. November. Hitlers Putsch am 9. November 1923 und Goebbels Reichspogromnacht am 9. November 1938 benutzten hingegen ganz bewusst die Symbolkraft des Tages der Novemberrevolution, um für ein Deutschland zu mobilisieren, das den 9. November 1918 ungeschehen machen würde.
Sowohl der 9. November 1923 als auch der 9. November 1938 markieren im Grunde nationalsozialistisches Scheitern. Hier des ersten Machtergreifungsversuchs, dort der bisherigen Judenpolitik. NS-Propagandisten interpretierten beide Daten aber geschickt um in Symbole der nationalsozialistischen Hoffnung; sie sollten lehren, Hitlers neues Deutschland leidenschaftlicher und entschiedener zu unterstützen.