Waldsterben : Die Natur der Hysterie
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Anfang der achtziger Jahre hieß es: „Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch.“ Bis heute jedoch haben beide überlebt Bild: Interfoto
Als es vor dreißig Jahren hieß, der Wald werde sterben, erfasste großer Aktionismus das Land. Doch die Vorhersagen einer ökologischen Apokalypse traten nicht ein. Waren sie falsch? Oder verhinderten sie, was sie ankündigten?
Nehmen wir einen Wald, irgendeinen. Nehmen wir den, der uns beim Wort Wald gerade in den Sinn kommt. Das Rascheln der Blätter unter den Füßen. Dieses Licht, wenn die Sonne durch die Kronen der Bäume bricht. Der Weg, der sich hinter den Stämmen verliert. Diese Stille in all diesem Leben. Das Gefühl, von etwas umgeben zu sein und gleichzeitig in ihm aufzugehen. Es ist nicht wichtig, ob wir diesen Wald jemals gesehen haben, ob es ihn gibt oder er nur in unserer Vorstellung besteht. Es ist der Wald, den wir sehen, wenn wir das Wort hören. Wenn wir vom Waldsterben reden, dann reden wir von ihm.
Im November 1981 machte der „Spiegel“ mit einer Geschichte über eine seltsame Erkrankung der Bäume in deutschen Wäldern auf. Zuerst nur im Schwarzwald, im Harz und im Bayerischen Wald beobachtet, wo Fichten und Tannen plötzlich ihre Nadeln verloren, ergrauten oder schüttere Kronen bekamen, breite sich die Krankheit jetzt auch auf Laubbäume und über das ganze Land aus. Buchen seien stark gefährdet, die Ulme stehe vor dem Aussterben, die Tanne habe sich bereits verabschiedet. Als Grund machten die Reporter die Abgase aus den Schornsteinen der Fabriken aus und darin vor allem das Schwefeldioxid, das sich mit der Luftfeuchtigkeit verbindet und als sogenannter saurer Regen niedergeht. Das Titelbild zeigte einen Nadelwald vor einem Wald rauchender Schlote. „Saurer Regen über Deutschland“, hieß die erklärende Zeile und die Überschrift lautete: „Der Wald stirbt“.
Alles für den Wald
In der Geschichte kamen mehrere Forstwissenschaftler zu Wort, die sich alle sehr alarmiert äußerten. Einer sagte, im Wald „tickt eine Zeitbombe“. Einer: „Wenn das so weitergeht, dann gnade uns Gott.“ Das Zitat aber, das sich in die Köpfe einschrieb, so dass sich heute noch viele Leute daran erinnern, selbst wenn sie den Artikel damals nicht gelesen hatten, war das: „Die ersten großen Wälder werden schon in den nächsten fünf Jahren sterben. Sie sind nicht mehr zu retten.“
Was danach passiert, ist für jemanden, der zum damaligen Zeitpunkt ein kleiner Junge war und der zudem auf der anderen Seite Deutschlands lebte, heute nur noch im Zeitungsarchiv nachvollziehbar. Innerhalb kürzester Zeit nehmen alle Medien das nun Waldsterben genannte Phänomen auf. 1983 täglich gibt es Berichte, Artikel, Sendungen. In der ARD moderiert Max Schautzer die Umwelt-Show „Unser schöner Wald soll leben“. Waldsterben wird Thema im Bundestagswahlkampf. Die Grünen ziehen ins Parlament ein. Die Regierung erlässt strenge Gesetze zur Luftreinhaltung, bleifreies Benzin wird eingeführt, der Katalysator für Autos Pflicht. 1985 gibt die Bundespost eine Briefmarke „Rettet den Wald“ heraus, auf der eine Uhr nur noch drei vor zwölf zeigt. Das Würfelspiel „Sauerbaum“, bei dem die Spieler versuchen müssen, saure Regentropfen von einer Tanne aufzusammeln, wird 1988 Spiel des Jahres.
Es war, als habe eine große, gemeinsame Bewegung das Land erfasst und alle - Medien, Wissenschaft, Politik, Bürger - machten mit. Andere Stimmen oder Meinungen schien es nicht zu geben. Wüsste man es nicht besser, müsste man sagen, dass sich bei diesem Thema wie von selbst ergab, was die Demokratie sonst nicht kennt - eine Einheitsfront.
Einer schlug Alarm
Heute, dreißig Jahre später, ist keine der Voraussagen eingetreten. An vielen Orten geht es dem Wald besser als damals, an manchen schlechter. Aber keine Baumart, kein Wald ist verschwunden, im Gegenteil, es gibt in Deutschland mehr Wald als vorher. Das Waldsterben selbst wurde vor zehn Jahren von der grünen Bundesumweltministerin Renate Künast für beendet erklärt. Wie konnte etwas, das unabwendbar schien und von dem deshalb jeder ausging, am Ende doch nicht eintreten? War alles nur Hysterie?
Der Satz, dass die ersten Wälder schon in fünf Jahren verschwunden sein werden und nicht mehr zu retten sind, stammt von Bernhard Ulrich. Er ist heute siebenundachtzig Jahre alt und wohnt noch immer in der Nähe des Solling, eines bergigen Waldstückes bei Göttingen, in dem er vor vierundfünfzig Jahren als gerade promovierter Bodenkundler mit Untersuchungen des Waldbodens begann. In einer Station im Wald ließ er Bäume verkabeln, den Boden überdachen und sammelte alle Werte ein, die sich zwischen Himmel und Erde erheben lassen; die Zusammensetzung des Regens unterhalb und oberhalb der Baumkrone, Bodenproben aus einem halben Meter Tiefe, aus einem Meter Tiefe, aus zwei Metern Tiefe, die Bestandteile des Nebels, der Wolken, des Sickerwassers und der Blätter, bevor sie auf den Boden fielen. Es war Grundlagenforschung, von der die Öffentlichkeit vermutlich nie etwas erfahren hätte. Zehn Jahre später wertete er die Daten aus und stellte fest, dass die Messwerte für Schwermetalle, aber vor allem für Schwefelsäure, hundertfach bis tausendfach höher lagen, als sie es ohne menschlichen Einfluss hätten sein dürfen.
„Plötzlich geht einem die Dimension auf, das ist wie eine Schockreaktion“, hat er den Moment vor Jahren einmal einer Journalistin der „Zeit“ gegenüber beschrieben und dass er dachte: „Wenn das stimmt, geht’s für den Wald aufs Ganze.“
Die Entdeckung von Bernhard Ulrich fiel in eine Zeit, in der die westlichen Gesellschaften zum ersten Mal seit Ende des Krieges begannen, über ihre Art zu Leben nachzudenken. Der Konflikt mit dem Osten hatte zum massenhaften Bau von furchtbaren Waffen geführt. Von der neuesten, der Neutronenbombe, hieß es, sie würde nur Lebewesen töten, Häuser, Straßen, Plätze dagegen verschonen. Erste Ölkrisen hatten gezeigt, wie abhängig alles Wachstum von Energiequellen war. Der Bericht des Club of Rome hatte gezeigt, wie begrenzt diese Quellen waren, wenn das Wachstum so weiterging. Gab es Krieg, stand man schnell vor einer Welt ohne Menschen, gab es keinen, stand man vor lauter Menschen ohne Welt.
In dem Artikel in der „Zeit“ unterhalten sich Bernhard Ulrich und seine Frau Margarete, eine Bodenkundlerin wie er, wie es kam, dass er mit seiner Entdeckung an die Öffentlichkeit ging. Sie erzählen, dass sie damals in den Harz fuhren, den sie von Spaziergängen kannten. Aber dort, wo sie vor Jahren noch Fotos von Bäumen gemacht hatten, fanden sie nun keine mehr.
„Das waren halt Bilder“, sagt er, „unter deren Eindruck ich gesagt habe, es werden Wälder flächig absterben.“
„Aber du wolltest schon auch einen Aha-Effekt auslösen“, sagt sie.
„Da hast du recht“, sagt er. „Ich wollte schon, dass politisch was passiert. Ich hatte da so einen emotionalen Unterton drin, und der war auch gewollt, um die Wirkung zu erzielen.“
Ein Genozid an Eichen und Linden
Zu dieser Zeit war bereits bekannt, welche Schäden Schwefeldioxid im Menschen anrichtet. In einigen Industriegebieten wurden gegen den Smog bis zu vierhundert Meter hohe Schlote gebaut, um die Schadstoffe in einem weiteren Umkreis zu verteilen. Deutsche Abgase kamen nun in Schweden an und vergifteten dort Seen. Die schwedische Regierung klärte deutsche Urlauber in Flugblättern über den „Acid Rain“ auf, noch bevor er als saurer Regen in der Presse stand. Auch die Waldschäden in den Mittelgebirgen hatten Förster gut dokumentiert, jedoch ohne sie erklären zu können. Die Vermutung von Bernhard Ulrich, dass es der saure Regen sei, der den Wald tötet, schien ein unübersichtliches Gemenge von Ursachen und Wirkungen endlich auf einen einfachen Zusammenhang zu bringen.
Sein Satz von den Wäldern, die in fünf Jahren verschwunden sein werden, fehlte anfangs in kaum einem der Berichte zum Waldsterben. Natürlich meldeten sich andere Wissenschaftler, wie der Münchner Forstbotaniker Peter Schütt, der glaubte, in Sachen Wald „sitzt uns das Messer an der Kehle“. Natürlich kamen Reporter, die ins Erzgebirge fuhren und schrieben, dort sehe es aus, „wie in Vietnam, als die Amerikaner Agent Orange vom Himmel warfen“. Natürlich kamen Politiker wie der Sozialdemokrat Freimut Duve, der fand, Deutschland stehe „vor einem ökologischen Holocaust“. Natürlich wollte die Bürokratie nicht zurückstehen wie das Bundesinnenministerium, das 1984 an alle deutschen Haushalte Päckchen mit Rotfichtensamen verschickte, weil der Kampf gegen das Waldsterben mit dem Pflanzen eines neuen Baumes beginne. Natürlich waren das Übertreibungen. Aber sie bezogen sich letztlich alle auf den Mann, der sich dafür entschieden hatte, nicht nur der Experte zu sein, der das Komplizierte einfach macht, sondern auch der, der das Handeln erzwingt. Reduktion und Alarmismus - daraus entsteht Hysterie.
Nichts Genaues weiß man nicht
„Wie geht’s dem Wald? Das war die Partyfrage, sobald jemand wusste, dass man Förster ist“, sagt Roderich von Detten.
Er hat Ende der achtziger Jahre angefangen, Forstwissenschaft zu studieren, als die Debatte ihren Höhepunkt schon überschritten hatte. Die Rauchgasentschwefelung der Kraftwerke und der Katalysator in den Autos hatten die Schadstoffe in der Luft auf ein Minimum reduziert, der „Waldschadensbericht“, den die Bundesregierung jedes Jahr veröffentlichte, hieß nur noch „Waldzustandsbericht“, die Ausbreitung der Schäden war zum Stillstand gekommen. Der Zusammenbruch der Industrie in Ostdeutschland verbesserte die Situation noch weiter. Trotzdem gab es nach der Jahrtausendwende Sommer, in denen ging es dem Wald viel schlechter als Anfang der achtziger Jahre, ohne dass es noch dieselben Gründe dafür gab und ohne dass darüber groß berichtet wurde. War alles also ein Irrtum?
„Die Frage nach den Gründen für das Waldsterben kann nicht beantwortet werden“, sagt Roderich von Detten. „Damit muss die Bewertung der Debatte beginnen.“
Ein bemerkenswerter Satz. Er steht auch in dem Buch, das Roderich von Detten vor einigen Tagen im oekom-Verlag herausgebracht hat. Es heißt „Das Waldsterben - Rückblick auf einen Ausnahmezustand“ und ist die Zusammenfassung eines Forschungsprojekts, an dem auch Historiker, Ethnologen und Kulturwissenschaftler teilgenommen haben. Sie interessiert an der Debatte, dass sie ein bleibendes Umweltbewusstsein geschaffen hat, dass Wissenschaft, Medien und Politik innerhalb kurzer Zeit tatsächlich Veränderungen erreichten und es darüber, dass diese Veränderungen gut und sinnvoll waren, keine Meinungsverschiedenheit gibt. Fast übersieht man darüber den Satz von Roderich von Detten, der ja nichts anderes bedeutet, als dass trotz der Leidenschaft und Entschiedenheit, mit der über das Waldsterben geredet wurde, am Ende nicht klar war, wodurch es eigentlich verursacht wurde.
„Es gab eben einen Handlungszwang“, sagt Roderich von Detten. „Auch wenn man nicht handelt, handelt man doch.“
Hysterie als Strategie
Die These vom sauren Regen als alleinigem Auslöser ist unter Forstwissenschaftlern heute jedenfalls umstritten. Womöglich wirkten an verschiedenen Orten verschiedene Faktoren. Vielleicht war es hier das Aluminium und dort die Trockenheit. Der Wald ist ein komplexes System, und was es war, was Anfang der achtziger Jahre auf ihn einwirkte, wird man nicht mehr genau feststellen können, weil die Voraussage, dass der Wald stirbt, die Zukunft verändert hat. Es gibt das Stück Land nicht, das weiterhin sauer beregnet wird, um zu überprüfen, ob da immer noch Bäume stehen. Das klingt, als sei es am Ende egal, ob die Öffentlichkeit aus falschen oder ungeprüften Annahmen handelt, solange sie dabei zu nützlichen Ergebnissen kommt.
Kann man nicht auch aus den falschen Gründen das Richtige tun? Vielleicht ist es für die Länder im Süden Europas ohnehin nötig, dass sie ihre Haushalte in Ordnung bringen, ganz egal, ob das nun den Euro rettet oder nicht. Vielleicht ist es auch ohnehin vernünftig, alle deutschen Atomkraftwerke stillzulegen, ganz egal ob sie nun sicherer sind als die japanischen oder nicht, das Problem mit der Endlagerung der Brennstäben ist so jedenfalls gelöst. Vielleicht war es deshalb Anfang der achtziger Jahre auch richtig, die Luftverschmutzung zu reduzieren, ganz egal, ob der Wald nun davon starb oder von etwas anderem. Ist ein wenig Hysterie nicht sogar wichtig, wenn sich dadurch mehr erreichen lässt als durch Sachlichkeit? Der Mechanismus, in dem diese Debatten geführt werden, ist doch immer wieder derselbe Mechanismus; nur die Verwunderung darüber, dass die Dinge letztlich nicht so einfach oder dringlich waren, wie sie zuerst zu sein schienen, der ist immer wieder neu. Wo also liegt der Schaden, wenn sich die Extreme am Ende gegenseitig aufheben und sich alles in der Mitte einpendelt?
„Man wäre an einer anderen Stelle herausgekommen“, sagt Hans von Storch.
Er ist Meteorologe, und was den Klimawandel betrifft, liegt er mit seiner Position eher in der Mitte. Er ist weder ein Skeptiker noch ein Alarmist, aber er weiß, dass man mit beiden Positionen leichter in die Medien kommt oder in der Politik Gehör erhält, um dort zu sagen, wie man als Wissenschaftler das Problem lösen würde. Er findet nur, dass das nicht die Aufgabe des Wissenschaftlers ist. Wissenschaftler beschreiben einen Zustand, Medien organisieren Debatten, und die Politik versucht Regeln zu finden, die widerstreitende Werte miteinander in Einklang bringen. Jeder hat in seinem eigenen Bereich eine Verantwortung, die er nicht abgeben kann, aber keiner hat Verantwortung für mehr als seinen. Das ist es, was in der Debatte über das Waldsterben nicht funktionierte.
„Es ist damals von wissenschaftlicher Seite eine Angststrategie gefahren worden, um mit Prognosen bestimmte Lösungen zu erzwingen“, sagt Hans von Storch.
Der Wald lebt, die Glaubwürdigkeit liegt darnieder
Ob es gute oder schlechte Lösungen waren, spielt für ihn keine Rolle. Es überhaupt zu tun war ein Sündenfall der Wissenschaft. Danach sei die Forstwissenschaft kaputt gewesen und als öffentlicher Berater verbraucht. Die Folgen davon bekommt er noch heute zu spüren, wenn es in der Klimadebatte heißt, dass auch das Waldsterben letztlich eine Erfindung der Wissenschaft gewesen sei, und das ist der Schaden, der bleibt. Er steckt nicht immer in der Lösung, er steckt in der Debatte.
Bleibt am Ende nur die Frage, aus welchem Grund Debatten über die Umwelt immer wieder so geführt werden?
„Wir Menschen haben die Vorstellung entwickelt, dass die Natur uns mitteilt, wie stark wir sündigen“, sagt Hans von Storch.
In diesem Wechselspiel aus Rücksichtslosigkeit und schlechtem Gewissen sind wir gefangen. Wahrscheinlich werden wir wohl erst, wenn wir erstere aufgeben, letzteres verlieren.