Waldsterben : Die Natur der Hysterie
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Der Satz, dass die ersten Wälder schon in fünf Jahren verschwunden sein werden und nicht mehr zu retten sind, stammt von Bernhard Ulrich. Er ist heute siebenundachtzig Jahre alt und wohnt noch immer in der Nähe des Solling, eines bergigen Waldstückes bei Göttingen, in dem er vor vierundfünfzig Jahren als gerade promovierter Bodenkundler mit Untersuchungen des Waldbodens begann. In einer Station im Wald ließ er Bäume verkabeln, den Boden überdachen und sammelte alle Werte ein, die sich zwischen Himmel und Erde erheben lassen; die Zusammensetzung des Regens unterhalb und oberhalb der Baumkrone, Bodenproben aus einem halben Meter Tiefe, aus einem Meter Tiefe, aus zwei Metern Tiefe, die Bestandteile des Nebels, der Wolken, des Sickerwassers und der Blätter, bevor sie auf den Boden fielen. Es war Grundlagenforschung, von der die Öffentlichkeit vermutlich nie etwas erfahren hätte. Zehn Jahre später wertete er die Daten aus und stellte fest, dass die Messwerte für Schwermetalle, aber vor allem für Schwefelsäure, hundertfach bis tausendfach höher lagen, als sie es ohne menschlichen Einfluss hätten sein dürfen.
„Plötzlich geht einem die Dimension auf, das ist wie eine Schockreaktion“, hat er den Moment vor Jahren einmal einer Journalistin der „Zeit“ gegenüber beschrieben und dass er dachte: „Wenn das stimmt, geht’s für den Wald aufs Ganze.“
Die Entdeckung von Bernhard Ulrich fiel in eine Zeit, in der die westlichen Gesellschaften zum ersten Mal seit Ende des Krieges begannen, über ihre Art zu Leben nachzudenken. Der Konflikt mit dem Osten hatte zum massenhaften Bau von furchtbaren Waffen geführt. Von der neuesten, der Neutronenbombe, hieß es, sie würde nur Lebewesen töten, Häuser, Straßen, Plätze dagegen verschonen. Erste Ölkrisen hatten gezeigt, wie abhängig alles Wachstum von Energiequellen war. Der Bericht des Club of Rome hatte gezeigt, wie begrenzt diese Quellen waren, wenn das Wachstum so weiterging. Gab es Krieg, stand man schnell vor einer Welt ohne Menschen, gab es keinen, stand man vor lauter Menschen ohne Welt.
In dem Artikel in der „Zeit“ unterhalten sich Bernhard Ulrich und seine Frau Margarete, eine Bodenkundlerin wie er, wie es kam, dass er mit seiner Entdeckung an die Öffentlichkeit ging. Sie erzählen, dass sie damals in den Harz fuhren, den sie von Spaziergängen kannten. Aber dort, wo sie vor Jahren noch Fotos von Bäumen gemacht hatten, fanden sie nun keine mehr.
„Das waren halt Bilder“, sagt er, „unter deren Eindruck ich gesagt habe, es werden Wälder flächig absterben.“
„Aber du wolltest schon auch einen Aha-Effekt auslösen“, sagt sie.
„Da hast du recht“, sagt er. „Ich wollte schon, dass politisch was passiert. Ich hatte da so einen emotionalen Unterton drin, und der war auch gewollt, um die Wirkung zu erzielen.“
Ein Genozid an Eichen und Linden
Zu dieser Zeit war bereits bekannt, welche Schäden Schwefeldioxid im Menschen anrichtet. In einigen Industriegebieten wurden gegen den Smog bis zu vierhundert Meter hohe Schlote gebaut, um die Schadstoffe in einem weiteren Umkreis zu verteilen. Deutsche Abgase kamen nun in Schweden an und vergifteten dort Seen. Die schwedische Regierung klärte deutsche Urlauber in Flugblättern über den „Acid Rain“ auf, noch bevor er als saurer Regen in der Presse stand. Auch die Waldschäden in den Mittelgebirgen hatten Förster gut dokumentiert, jedoch ohne sie erklären zu können. Die Vermutung von Bernhard Ulrich, dass es der saure Regen sei, der den Wald tötet, schien ein unübersichtliches Gemenge von Ursachen und Wirkungen endlich auf einen einfachen Zusammenhang zu bringen.