
Wahlforschung : Kommen Sie mir nicht mit der Sonntagsfrage!
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Zusatzaufgabe für Meinungsforscher: Mehr Wähler denn je geben ihre Stimme nicht erst am Wahltag ab, sondern per Briefwahl. (Symbolbild) Bild: dpa
Lizenz für den unpolitischen Bürger: Ein Umfrage-Profi stellt fest, dass die Aufspreizungen auf politischer Bühne in krassem Missverhältnis zu dem stehen, was im Alltag wichtig ist.
Wie bildet sich der Wille bei der politischen Willensbildung? Anders gefragt: Wen kratzt was wie lange und wie doll von alldem, was im Namen des Politischen über die öffentliche Bühne rollt und dort in jedem seiner Phasenmomente begutachtet wird? Die Aufspreizungen sind ja gelegentlich raumgreifend, wie nicht erst bei der K-Frage und den sie aufmischenden Umfragen zu sehen war.
Willensbildnerisch geht es um eine verbreitete optische Täuschung, an der bisweilen krasse Selbstmissverständnisse hängen: nämlich das öffentlich für wichtig Genommene und als wichtig Ausgewiesene (gemäß Sendezeit im TV zum Beispiel) auch für das zu halten, was den Menschen in ihrem Morgens-bis-abends-Alltag wichtig ist, woran sie denken im Sinne eines heimlichen Immer-daran-Denkens als dem vermeintlich Einen, um das sich für alle alles dreht.
Intrapsychische Objektbezüge
So aufreizend wie lässig hat auf diese falsche Suggestion vorgestern Abend Reinhard Schlinkert vom politischen Umfrageinstitut Infratest Dimap bei Phoenix hingewiesen. Auf die berühmte Sonntagsfrage „Wen würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären?“ werde, so Schlinkert, zunehmend unverständig reagiert. Am nächsten Sonntag sei doch gar keine Bundestagswahl! Was denn die Frage soll? So höre man von etlichen Befragten, die mit der Irrealis-Funktion derartiger Umfragen in der Realität ihres Alltags nichts anfangen können und deren Aussagekraft beargwöhnen, noch während sie sie beantworten.
Versteht man Schlinkert recht, verhält es sich überhaupt so, dass „Politiker, Journalisten und Meinungsforscher“ einen anderen intrapsychischen Objektbezug aufweisen als „der normale Mensch in Deutschland“, den der jeweils nächste Sonntag allenfalls unter dem Aspekt seiner Alltagssorgen interessiere statt einer hypothetischen Bundestagswahl. Das mag demokratietheoretisch ein mit heißer Nadel gestricktes Statement sein, das Schlinkert da vortrug, eine – wenn man so will – Lizenz für den unpolitischen Bürger. Doch dadurch wird die festgestellte große Disproportion zwischen bedeutsam hier und bedeutsam dort erst einmal nicht falsch.
Bei maximaler Beschallung
Schlinkerts Mitdiskutanten im TV schienen nicht zu wissen, wie ihnen geschah, als der verdiente Wahlforscher, dieser Protagonist von Öffentlichkeit, im Vorbeigehen mal eben den performativen Rahmen zerbrach, innerhalb dessen das behandelte Thema „Der Machtkampf – spalten Laschet und Söder die Union?“ überhaupt nur ein Thema war.
Anders gesagt, Schlinkerts Linien verlängernd: Die politischen Dynamiken der betriebsförmig bewirtschafteten Willensbildung ändern nichts daran, dass der Mensch doch seinen eigenen Willen hat, der für ihn auch unter maximaler öffentlicher Beschallung das letzte Wort behält. Sagen wir mal so: Der Wichtigkeitsgrad, der sich über Silbe für Silbe abgeklopfte Sätze sowie über Blaulicht und Privatjet der Silbenträger mitteilt, hat im Wortsinn keine Substanz. Er hat keinen Bestand in einem darunter stehenden Menschen, wenn dieser Mensch – wunschgemäß die Öffentlichkeit bedienend – sonntagsrednerisch eine Sonntagsfrage beantwortet, die sich für ihn persönlich gar nicht stellt.