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Syberbergs Demmin-Film : Singen statt schweigen

Hans-Jürgen Syberberg an seinem Schreibtisch in Nossendorf, darüber der Filmtitel, handgeschrieben. Bild: Hans Jürgen Syberberg

Hans Jürgen Syberbergs Dokumentarfilm „Demminer Gesänge“ ist eine Liebesgabe für eine gelähmte Stadt. Er will aus der Erinnerung keinen Profit schlagen, sondern Lebensmut schöpfen.

          4 Min.

          Man wolle den Markt von Demmin, dieses Nichts zwischen Plattenbauten rund um die Reste des alten Rathauses, keinem „Investor“ überlassen, sagt Hans- Jürgen Syberberg in seinem Film „Demminer Gesänge“. Man brauche niemanden, der dort „einen Supermarkt hinstellt“. Es gehe in dieser vorpommerschen Stadt darum, einen Ort zu schaffen, wo Menschen „nicht nur kaufen, sondern auch sein“ können.

          Jan Brachmann
          Redakteur im Feuilleton.

          „Nicht nur kaufen, sondern auch sein“ ist die Schlüsselzeile des dreistündigen Dokumentarfilms, seines Anliegens, seiner Ästhetik, seiner Denkungsart. Eines Films, den die Berlinale nicht ins Programm nehmen wollte, was ihr gutes Recht ist, aber angesichts des Ranges seines Autors, der zu den bedeutendsten Filmemachern des letzten halben Jahrhunderts gehört, trotzdem befremdet. „Nicht nur kaufen, sondern auch sein“: Das meint, sich der Ruhigstellung der eigenen Verwundung durch bloßen Konsum zu verweigern. Demmin, am Zusammenfluss von Trebel, Peene und Tollense südlich von Greifswald, westlich von Anklam gelegen, war der Schauplatz eines der größten Massenselbstmorde gegen Ende des Zweiten Weltkrieges.

          „Demmin hat plötzlich wieder eine Geschichte“

          Zwischen dem 29. April und dem 8. Mai 1945 nahmen sich hier mindestens tausend Frauen und Kinder das Leben aus Angst vor der einrückenden Roten Armee. Die Altstadt brannte nieder. In der DDR durfte nicht geredet werden über vergewaltigende und brandschatzende Sowjetsoldaten. Die Kinder von damals blieben mit ihren Erinnerungen an Frauen, die sich die Pulsadern aufgeschnitten oder sich erhängt hatten oder sich mit ihren Kindern in der Peene er­tränkten, allein. Nach vierzig Jahren Sprachlosigkeit verheerte die Wiedervereinigung die Stadt zu einem geschichtspolitischen Schlachtfeld, auf dem die Neonazis das Opfergedenken an sich reißen und die Linken jede Artikulation deutscher Opfererfahrung kriminalisieren wollten. Die Stadt, in der zwischen den Generationen kein angstfreies Ge­spräch in der Öffentlichkeit stattfinden konnte und die auch baulich ihr Zentrum nicht wiederfand, hält ihre Jugend nicht mehr. Sie blutet aus. Da helfen auch die Supermärkte nicht, in denen man alles kaufen kann.

          Hans-Jürgen Syberberg, 1935 in Nossendorf, wenige Kilometer nördlich von Demmin geboren und vor 23 Jahren wieder dorthin zurückgekehrt, will seit Jahren den Marktplatz von Demmin wiedererstehen lassen. Sein Film „Demminer Gesänge“ dokumentiert diese Anstrengung. Er ließ mit Hilfe privater Förderer Gerüste um den Markt errichten und hängte Planen mit den alten Fassaden davor. Er belebte das zerstörte Café Zilm wieder, für das seine Frau Helga und seine Tochter Amelie Kuchen backten, spürte seine eigene, weit über neunzigjährige Musiklehrerin Marlies Hamann auf, brachte sie mit den alten und jungen Demminern zusammen und hält das Er­gebnis fest: „Demmin hat plötzlich wieder eine Geschichte und eine Kultur des Lebens, wo man sitzt, redet und miteinander singt“.

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