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Viviane Reding im Gespräch : „Es gibt ein reales Problem mit Roma“

  • Aktualisiert am

Die Luxemburgerin Viviane Reding Bild: Helmut Fricke

Massenausweisungen sind keine Lösung, sagt Viviane Reding im F.A.S.-Gespräch. Die EU-Justizkommissarin setzt im Umgang mit Roma auf Integration und bietet finanzielle Hilfe an.

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          Rumänen und Bulgaren, die nie in Deutschland gearbeitet haben, kein Wort Deutsch sprechen und auch keinen Schulabschluss haben, bekommen von deutschen Sozialgerichten routinemäßig Hartz IV zugesprochen. Wie finden Sie das, Frau Reding?

          Als Justizkommissarin habe ich ein Prinzip: Ich mische mich nie in Entscheidungen unabhängiger Gerichte ein, insbesondere, wenn die Gerichte aufgrund von nationalem Recht urteilen.

          Die Richter berufen sich aber auf europäisches Recht. Sie glauben, dass es deutsches Recht bricht, das EU-Bürgern auf Arbeitssuche den Zugang zu Sozialleistungen pauschal verweigert.

          Noch einmal: Ich will nicht deutsche Gerichtsentscheidungen kommentieren, die noch nicht endgültig sind. Aber das europäische Recht erläutere ich gern. In der Freizügigkeitsrichtlinie von 2004 steht klar und deutlich, was Sache ist. Drei Monate lang darf sich jeder EU-Bürger in einem Mitgliedstaat aufhalten, hat aber keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Nach drei Monaten muss man beweisen, dass man entweder eine Arbeit hat oder genügend eigene Mittel und somit dem Sozialsystem nicht zur Last fällt.

          Es gibt aber auch eine Verordnung, ebenfalls aus dem Jahr 2004, zur Koordinierung der sozialen Sicherungssysteme. Nach dieser Verordnung haben EU-Bürger, die sich rechtmäßig in Deutschland aufhalten, ebenso Anrecht auf Hartz IV wie Deutsche.

          Nach unseren Erkenntnissen bekommen in Deutschland vor allem EU-Bürger Hartz IV, die hart arbeiten, aber sehr wenig verdienen und deshalb ihren Lohn mit Hartz IV aufstocken. Hingegen bekommen die Deutschen Hartz IV vor allem dann, wenn sie arbeitslos sind. Es gibt natürlich immer Ausnahmen, und es gibt immer Fälle von Missbrauch – auch bei den Deutschen.

          Die Gerichte erkennen aber selbst dann nicht auf Missbrauch, wenn sich eine Familie nicht einmal um Arbeit bemüht. Solange das Aufenthaltsrecht nicht widerrufen wird, besteht auch ein Anspruch auf Hartz IV – nach EU-Recht.

          Erstens sind nationale Behörden dafür zuständig, das Aufenthaltsrecht zu widerrufen, wenn die Aufenthaltsbedingungen nicht mehr erfüllt sind. Zweitens sind noch Rechtsfragen zu klären. Es gibt zwei Vorlageentscheidungen deutscher Sozialgerichte über Hartz-IV-Ansprüche für EU-Ausländer, über die der Europäische Gerichtshof befinden muss. Ein Urteil steht aus.

          In einem Fall hat die Kommission schon Stellung genommen – und ihre Rechtsauffassung deckt sich mit den Urteilen deutscher Gerichte. Auch die Kommission hält den pauschalen Ausschluss von Sozialleistungen für EU-Bürger in Deutschland für rechtswidrig.

          Es ist bei Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof üblich, dass Kommissionsjuristen Stellungnahmen abgeben. Ich möchte aber klarstellen: Die EU-Kommission hat niemals gefordert, dass alle EU-Ausländer Hartz-IV-Leistungen erhalten. Wir haben nur gesagt: Es muss im Einzelfall geprüft und im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entschieden werden. Das ist das Wesen des Diskriminierungsverbots, und es steht so ausdrücklich in der EU-Freizügigkeitsrichtlinie aus dem Jahr 2004, die alle EU-Mitgliedstaaten, einschließlich Deutschland, mitbeschlossen haben. Darüber hatte ich bereits die eine oder andere Auseinandersetzung mit anderen Staaten...

          ...als Sie 2010 der Massenausweisung von Roma in Frankreich entgegengetreten sind und mit einem Vertragsverletzungsverfahren gedroht haben.

          Europäisches Recht gilt für jeden einzelnen der 507 Millionen Bürger. Nie dürfen belastende nationale Maßnahmen auf eine bestimmte Gruppe zielen. Es darf keine pauschale Behandlung geben. Man muss immer den Einzelfall prüfen und beurteilen. Das macht natürlich eine Menge Arbeit, aber es ist nun einmal das Wesen jedes Rechtsstaats.

          Trotzdem müsste in Deutschland das Sozialgesetzbuch geändert werden.

          Das ist Ihre Analyse, der Europäische Gerichtshof hat noch nicht entschieden. Klar ist: Nach europäischem Recht dürfen EU-Bürger, die rechtmäßig in Deutschland leben, nicht durch deutsches Recht wegen ihrer Nationalität diskriminiert werden. Übrigens gilt dieser Schutz ja auch für Deutsche, die in einem anderen EU-Staat leben. Es gab den Fall eines deutschen Rentners, dem in Österreich eine Aufstockung seiner geringen Rente versagt wurde. Da hat der Europäische Gerichtshof geurteilt: Es darf keinen pauschalen Leistungsausschluss geben. Österreich muss den Einzelfall prüfen und dabei auch abwägen, ob es zu einer unangemessenen Belastung seines Sozialsystems käme.

          Die Grundfrage ist doch: Wie viel Solidarität ist in der EU notwendig?

          Geht es hier um Solidarität?

          Na klar, wenn EU-Bürger in einem anderen Land Sozialleistungen beziehen, ohne dass sie dort Steuern und Sozialbeiträge gezahlt haben.

          Aber schauen Sie mal. Warum kommen die Menschen nach Deutschland? Weil sie eine Arbeit suchen. Und Deutschland braucht diese Menschen mehr als jedes andere Land in Europa. Kleine und mittelständische Betriebe suchen händeringend nach Fachkräften. In ganz Europa sind zwei Millionen Arbeitsplätze nicht besetzt. Deshalb ist es zuerst einmal ein sehr großer wirtschaftlicher Vorteil, wenn die Menschen überhaupt zum Arbeiten in ein anderes Land kommen. Wir haben in Deutschland wie in Luxemburg eine alternde Gesellschaft. Die Nachfrage nach jungen Arbeitskräften wird steigen. Seien wir auch mal ehrlich: Freuen sich nicht viele Deutsche uneingeschränkt über spanische Krankenschwestern, fürchten sich aber vor rumänischen Erntehelfern?

          Bei der Sitzung der Innenminister im Dezember haben Sie gesagt, die Mitgliedstaaten müssten ihre Hausaufgaben machen. Woran denken Sie?

          Die Staaten sollten die Mittel besser nutzen, die wir über den Europäischen Sozialfonds zur Verfügung stellen. Die meisten Probleme entstehen in den Kommunen. Die Leute sehen Bettler auf der Straße, und das gefällt ihnen nicht. Das ist allerdings nicht ein Versagen Europas oder der Freizügigkeit, sondern eine soziale Angelegenheit. Hier geht es um Menschen, die integriert werden müssen, und manchmal auch um Fragen des Ordnungsrechts.

          Geld ist also da, wird aber entweder nicht abgerufen oder für andere Projekte genutzt. Ist die Kommission da machtlos?

          Nein, wir haben den Mitgliedstaaten vorgeschrieben, dass sie künftig mindestens 20 Prozent der Mittel aus dem Sozialfonds für Integration und Armutsbekämpfung einsetzen müssen. Bislang geben sie im Durchschnitt nur 15 Prozent dafür aus. Die Erhöhung hängt natürlich auch damit zusammen, dass es ein reales Problem mit Roma gibt. Man sollte die Dinge doch beim Namen nennen. Die meisten Armutseinwanderer sind nun einmal Roma. Das sind sehr kinderreiche Familien. Wenn wir diese Kinder nicht zur Schule schicken, wenn wir sie nicht in die Gesellschaft integrieren, dann hat die nächste Generation noch größere Probleme. Auf Druck der EU-Kommission haben immerhin sämtliche Mitgliedstaaten jetzt einen nationalen Aktionsplan für die Integration von Roma erstellt. Anfang April werden wir in Brüssel darüber diskutieren.

          In Deutschland dringt die CSU darauf, Sozialtouristen auszuweisen und sie sogar mit Wiedereinreisesperren zu belegen. Sie kennen den Slogan: „Wer betrügt, der fliegt!“

          Wir haben momentan eine ziemlich aufgeheizte Debatte mit viel Polemik und Schlagwörtern, die uns nicht weiterbringen. Wir müssen aufpassen, dass nicht die Freizügigkeit an sich unter die Räder kommt. Vierzehn Millionen Europäer leben in einem anderen EU-Staat. Nur ein sehr kleiner Teil von ihnen verursacht Probleme – konzentriert auf einige wenige Städte.

          Die Probleme werden also übertrieben?

          Weil es so große Aufregung gibt, haben wir mal das Zahlenmaterial analysiert, das uns die Mitgliedstaaten zur Verfügung gestellt haben. Von den Sozialleistungen geht in den Mitgliedstaaten nur ein sehr kleiner Teil an EU-Bürger aus einem anderen Land. Zuwanderer aus Drittstaaten bekommen dreimal mehr an Sozialleistungen. Außerdem ist ein größerer Anteil der zugewanderten EU-Bürger erwerbstätig, als das bei den Ansässigen der Fall ist. Die Menschen kommen in der Regel, um zu arbeiten und um zu studieren.

          In der letzten Zeit kommen aber immer mehr Menschen ohne Schulabschluss, die kaum Chancen auf einen Job haben.

          Es hat immer Zuwanderer gegeben, die keine Akademiker waren. Trotzdem haben sie Arbeit gefunden. Sie werden oft unterbezahlt. Das hing auch mit den Freizügigkeitsbeschränkungen zusammen. Die sind am Jahresanfang für Bulgaren und Rumänen weggefallen, und das wird hoffentlich ihre Lage verbessern. Soziale Probleme tauchen immer da auf, wo sich viele Zuwanderer konzentrieren und keine Arbeit finden. Deshalb wollen wir den Kommunen auch helfen. Am 11. Februar habe ich Bürgermeister aus ganz Europa eingeladen. Ich werde ihnen zuhören, und die Kommission wird ihnen erläutern, wie sie europäische Hilfen und das EU-Recht besser nutzen können.

          Die Kommission ist doch gar nicht zuständig für die Kommunen.

          Ich bin zwar nicht für die Gemeinden zuständig, aber das sind ja Europäer! Wenn die Probleme haben, muss ich sie miranhören und nach einer Lösung suchen. Es geht nicht darum, nach Schuldigen zu suchen, sondern nach gemeinsamen Lösungen. Dazu müssen Bund und Länder, Kommunen und Europa konstruktiv und pragmatisch zusammenarbeiten. Man kann doch nicht alle Probleme polemisch auf Europa schieben und dann, wenn Europa konkret helfen will, laut „Subsidiarität“ schreien.

          Es gibt in Europa sehr unterschiedliche Lösungsansätze. Die Briten erwägen, den Zuzug aus anderen EU-Staaten zu beschränken.

          Man kann nicht den gemeinsamen Binnenmarkt mit allen Vorteilen für den Export nutzen und gleichzeitig die Freizügigkeit für Bürger einschränken. Wir hatten im Dezember eine Sitzung der EU-Innenminister, und darüber waren sich alle einig – mit Ausnahme der Briten. Es bestand auch Einigkeit darüber, dass das Recht, sich frei zu bewegen, kein Recht auf Einwanderung in die Sozialsysteme begründet. Rechte sind immer mit Pflichten verbunden. Wer die Freizügigkeit als fundamentales Recht für alle Bürger absichern möchte, muss auch den Missbrauch bekämpfen.

          Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok hat vorgeschlagen, die Daten – zum Beispiel Fingerabdrücke – von EU-Bürgern zu erfassen, die wegen Sozialbetrugs ausgewiesen werden. So könnte man verhindern, dass sie einen Tag später wieder einreisen und in einer anderen Stadt dasselbe Spiel spielen. Was halten Sie davon?

          Ich kenne Elmar gut, er reist oft nach Amerika. Er weiß, wie es an den hermetisch abgeriegelten amerikanischen Grenzen zugeht. Wir reden hier aber nicht über Einwanderung nach Europa, sondern über Personenfreizügigkeit in einem Raum, in dem es keine Grenzen mehr gibt. Ich finde es allerdings durchaus richtig, wenn sich die Verwaltungen besser vernetzen, um Daten auszutauschen. In Slowenien hat sich zum Beispiel die Missbrauchsbekämpfung wesentlich verbessert, seitdem dort etwa sechzig Register von Behörden miteinander verknüpft worden sind. Anderes Beispiel: Warum haben wir Europol aufgebaut? Damit unsere Polizeibehörden vernetzt sind. Wir müssen natürlich auch dagegen vorgehen, dass Kriminelle Freizügigkeitsrechte ausnutzen und so missbrauchen.

          Frankreich hat auch Fingerabdrücke von Roma erfasst, die es in ihre Herkunftsländer zurückführt. Dagegen ist die Kommission nicht vorgegangen.

          Das ist auch nicht meine Zuständigkeit, sondern Sache der Nationalstaaten – solange sie sich an europäisches Recht halten, was in diesem Fall geschehen ist. Die schwedische Polizei hat pauschal die Daten von etwa 4000 Roma in einer Datenbank erfasst, darunter waren 1000 Kinder. Alles ohne konkreten kriminellen Verdacht, nur aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit. Dagegen habe ich auf der Grundlage des EU-Datenschutzrechts Einspruch erhoben. Mit Erfolg.

          Sie haben jetzt immer wieder gesagt: Ich will zuhören und Probleme im Dialog lösen. In Deutschland ist der Eindruck entstanden, die Kommission schere sich gar nicht um das, was in manchen Städten geschieht, sie lebe in ihrer eigenen Welt.

          Ich war 17 Jahre lang im Gemeinderat meiner Heimatstadt Esch an der Alzette, danach zehn Jahre lang im luxemburgischen Parlament. Ich habe als Kommissarin an die zwanzig Bürgerdialoge in Städten und Gemeinden auf dem ganzen Kontinent geführt und mit zahlreichen Bürgermeistern und Gemeinderäten geredet. Die erzählen mir dann von ihren Sorgen. Deshalb weiß ich: Weder mit Theorie noch mit Polemik können wir die Probleme lösen.

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