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Brasilianische Literatur : Ein Teil von mir ist nur noch Fressen für die Tiere

Nur wenige Kilometer entfernt beginnt der Regenwald: Der Strand von Ipanema in Rio de Janeiro am Tag des „Supermondes“ im August 2014. Bild: AFP

Wie eine Frau auseinander fällt und sich wieder zusammensetzt: Tatiana Salem Levy erzählt die Geschichte einer Vergewaltigung

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          Eine der gängigen Erfahrungen der letzten Wochen, da wir als Zeitungsleser und Fernsehgucker täglich der Entwicklung eines Krieges folgen, besteht in einer stark empfundenen Inkongruenz. Was wiegt der Geschmack eines Frühstücksapfels gegen diesen Krieg? Warum sollte ich die Fenster reinigen, wo andere gar keine Fenster mehr haben? Dasselbe mag für privates Unglück gelten, das sich plötzlich, angesichts des großen Unglücks für Millionen, relativiert und verkleinert sieht. Aber natürlich darf man so nicht denken. Denn auch die Kriegserfahrung wird irgendwann, auf Einzelschicksale verteilt, in Bücher eingehen und so überhaupt erst erzählbar werden, und jede Wahrnehmung von Leid beginnt beim eigenen Ich.

          Paul Ingendaay
          Europa-Korrespondent des Feuilletons in Berlin.

          Die brasilianische Schriftstellerin Tatiana Salem Levy, geboren 1979, unternimmt in ihrem Roman „Vista Chinesa“, ihrer ersten Veröffentlichung auf Deutsch, etwas Schwieriges: Sie erzählt von der Vergewaltigung einer jungen Frau und bleibt gedanklich auf jeder Seite bei diesem Ereignis, ohne ihrem Buch Schönheit, Tiefe und Reflexionsraum zu nehmen. Dass manche Passagen hart sind und nur mit Schlucken bewältigt werden können, wird dabei nicht überraschen. Manche dürften sich fragen: Muss ich mir das antun? Doch die Autorin beutet ihren Stoff nicht aus, sondern faltet ihn gewissermaßen auseinander, um ihn zu analysieren, und wie sie das tut, mit Umsicht, Ökonomie und Wahrhaftigkeit, macht dieses schmale Buch ungewöhnlich.

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