Was lesen Sie?
Natürlich erinnern sich auch Autorinnen an die Musik ihrer Jugend, ans frühe Fußballspielen, an Ferienlager und Schüleraustausch. Viel seltener aber als ihre männlichen Kollegen, scheint mir, verspüren sie das Bedürfnis, sich aus den Jugenderinnerungen ein verlorenes Paradies zusammenzuschreiben, als sei mit dem Erwachsenwerden das Leben auch schon so gut wie erledigt gewesen. Mag sein, sie können beim besten Willen kein Paradies erkennen. Leben heißt Leben, vom Tag der Geburt an. Und so geht es weiter, bis zum letzten Tag. „Kann sein, das ist der Grund, warum ich das hier nicht erzählen kann, nur schreiben“, überlegt Kerstin Preiwuß einmal in ihrem neuen Buch, „Heute ist mitten in der Nacht“. Ein Satz, der darin an vielen Stellen stehen könnte, der unentwegt mitläuft. Sie überlegt: „Schon immer kam ich mir mangelhaft vor, aber wie bespricht man Mangel?“ Kerstin Preiwuß tut es, indem sie unserer akuten Gegenwart folgt, vom Weg in die Covid-Pandemie bis zum bestialischen Krieg, mit dem Russland die Ukraine unterwerfen will. Und damit gerät, wie von allein, die eigene Lebensgeschichte in den Blick: Warum lässt man sich von Verunsicherungsandrohungen bange machen? Hat man nicht in der Vergangenheit, in der Jugend, bereits unter Beweis gestellt, dass man sich dagegen zur Wehr setzen kann? Warum nützt es einem dann heute so wenig, im früheren Selbst das beste Beispiel dafür zu erkennen, wie man der Angst die Stirn bietet? In entwaffnend klaren Sätzen umkreist Kerstin Preiwuß so Lebensszene für Lebensszene, Situationen der Ohnmacht, die sich zu Momenten des Souveränitätsgewinns entwickeln. Und dennoch: Wenn es gelingt, die Angst zu besprechen, indem man sie schreibt – warum lässt man sich dann immer noch einschüchtern von der eigenen Angst vor der Angst?
Was hören Sie?
Welche Musik spielten Frauen heute vor vierzig Jahren in, sagen wir – Uruguay? Hier hätten wir zum Beispiel das wunderbare, einzige Album des Trios Travesía, „Ni Un Minuto Más De Dolor“, das zwischen Februar und April 1983 in Montevideo aufgenommen wurde. Und doch klingt alles, als sei die Platte gestern entstanden. Drei Stimmen, zwei Gitarren, ab und zu ein paar Töne auf dem Klavier, der Flöte oder der Melodica. Im Himmel läuft Bossa Nova. Keine Minute mehr Schmerz. Eine ähnliche Melancholie begegnet mir fünfunddreißig Jahre später auf dem musikalisch völlig anders gelagerten Debütalbum „Sistahs“ des feministischen Post-Punk-Trios Big Joanie aus London. Mit ihrem Kernprogramm aus Schlagzeug, Bass, Gitarre und Gesang hält Big Joanie Druck und Dringlichkeit auf Garagengröße zusammen. Was aber, wenn der Garage irgendwann vor lauter Energie das Dach wegfliegen würde? Die Probe darauf scheint die ebenfalls in London lebende Rapperin Little Simz zu machen, wenn ihr Album „Sometimes I Might Be Introvert“ gleich mit dem Opener einen Riesenraum ausmisst, von der Ozonschicht bis zum untersten Parkdeck: Großes Orchester und Chor lassen den Blick unwillkürlich nach links und nach rechts und vor allem nach oben wandern, bis mit einem Mal die Stimme von Little Simz in der Bildmitte erscheint: „There’s a war“ – und das im Jahr 2021. Ja, mag sein, manchmal bin ich vielleicht introvertiert. Doch Vorsicht, es ist nichts Niedliches daran.
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