Internet-Phänomen Realfakes : „Warum sollte jemand so was Bescheuertes tun?“
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Die Autorin Victoria Schwartz lebt in Hamburg. Bild: dpa
Über Twitter lernte Victoria Schwartz einen Mann in Amerika kennen. Die beiden telefonierten täglich und verliebten sich. Dann fand sie heraus: Kai existiert nicht. Und: Sie ist kein Einzelfall.
Die Verliebtheit war groß. Monatelang schickte Kai seiner Internet-Freundin Victoria Schwartz Geschenke und Hunderte Fotos von sich – nur zu einem Treffen kam es nie, weil Kais angekündigte Heimkehr aus Amerika sich immer wieder verzögerte. Erst nach Monaten erfuhr Schwartz durch eigene Recherche und die Unterstützung eines Journalisten die Wahrheit: Kai war die falsche Online-Identität einer Doktorin der Psychologie, die in den Südstaaten lebt und mit viel Aufwand ein Lügengebäude aus unechten Profilen von Kais angeblichen Freunden errichtet hatte. Die Fotos zeigten einen Fremden. Die Stimme am Telefon war verzerrt.
Victoria Schwartz ging mit ihrer Geschichte in ihrem Blog an die Öffentlichkeit und fing bald an, anderen Betroffenen ehrenamtlich zu helfen. Täglich melden sich Menschen bei ihr, denen ebenfalls Liebe im Internet vorgegaukelt wurde. Keiner von ihnen wurde finanziell ausgenutzt: Die Ausbeutung ist emotionaler Natur. Über ihre eigene Geschichte hat Victoria Schwartz das Buch „Wie meine Internet-Liebe zum Albtraum wurde. Das Phänomen Realfakes“ veröffentlicht (Blanvalet, 320 Seiten, 12,99 €).
Frau Schwartz, Sie haben dem Phänomen den Namen „Realfake“ gegeben. Wie würden Sie es charakterisieren?
Diese Menschen bauen mit wahnsinnig viel Aufwand eine perfekte falsche Identität auf und erstellen hochkomplexe Fakeaccount-Netzwerke, um das eine wichtige falsche Profil real erscheinen zu lassen. Realfakes wollen nie Geld. Sie wollen Aufmerksamkeit.
Was ist daran dann noch real?
Es stecken immer Menschen dahinter, die bei den vielen Gesprächen wohl oder übel auch viel von sich selbst preisgeben. Ihr Alltag ist oft echt, aber die Rahmenbedingungen nicht: Das Geschlecht ist in wahnsinnig vielen Fällen gelogen. Meistens schlüpfen Frauen in Männerrollen, so wie bei mir damals. Bei Tätern und Opfern sind siebzig Prozent Frauen, aber die wenigsten Opfer sind lesbisch.
Warum tut jemand so etwas?
Oft liegen dem große psychische Störungen zugrunde. Im deutschsprachigen Raum ist das bisher überhaupt nicht erforscht; es gibt keine einzige Studie. Viele Realfakes ziehen ihre falsche Identität und die Beziehung zu ihrem Opfer über Jahre hinweg durch. Einige von ihnen haben mich selbst kontaktiert. Sie erzählen, es sei für sie wie eine Sucht, dem eigenen Leben zu entfliehen, und am Ende fast unmöglich, da wieder rauszukommen. Außerdem spielt der Wunsch nach Macht eine Rolle: Man kann den anderen mit einem Fake-Account gut manipulieren. Manchmal ist es auch ein Weg, seine unterdrückte Sexualität auszuleben, etwa bei lesbischen Frauen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht outen können. Sexuell motivierte Männer äußern dann irgendwann den Wunsch nach Nacktbildern. Manche rutschen auch einfach so rein: Sie erstellen einen falschen Spaß-Account, kommunizieren mit jemandem und verlieben sich dann im Laufe der Zeit.
Wo finden sie ihre Opfer?
Interessanterweise seltener auf Dating-Seiten, eher in Foren, auf Spieleplattformen, bei Twitter und Facebook. Bei den Jüngeren ist Instagram zur Zeit das Fake-Netzwerk Nummer 1. Die meisten Opfer sind total normale User zwischen zwanzig und dreißig Jahren. Sie fallen einfach drauf rein, weil es für sie zum Alltag oder Beruf gehört, sich im Netz zu bewegen und auch mit Fremden zu kommunizieren. Mehrere der Männer die mir schrieben, kommen aus der IT-Branche, waren also mit dem Netz absolut vertraut. Sehr viele der Frauen sind außergewöhnlich hübsch. Sie genießen es, nicht nur auf ihre Optik reduziert zu werden, sondern mit dem Fake tiefsinnige Gespräche zu führen.