Unbekanntes von Camus : Klarheit, Ironie, Verweigerung und Hartnäckigkeit
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Journalismus war für ihn wie Fußball und Theater: Albert Camus mit Zeitung und Zigarette in Paris, 1959 Bild: AFP
Das sind die vier Gebote des Journalismus nach Albert Camus. In einem 1939 verbotenen, nun wiedergefundenen Leitartikel reflektiert er über Freiheit und Verantwortung der Medien.
Der Artikel hätte am 25. November 1939 erscheinen sollen. Albert Camus schrieb ihn für „Le Soir républicain“, eine kleine Tageszeitung in Algier, die er zusammen mit seinem Freund Pascal Pia leitete. Sie waren auch praktisch die einzigen Mitarbeiter, das Blatt hatte einen Umfang von einer Seite und erschien nur in der Hauptstadt Algeriens, das ein französisches Departement war.
Doch der Zensur entging keine Zeile. Weil sich Camus, der bereits seine ersten Bücher publiziert hatte, und Pia jeglicher Zusammenarbeit mit der Behörde verweigerten, erschien ihre Zeitung regelmäßig mit weißen Flecken. Heftig hatte Camus die pazifistische Stimmung in Frankreich kritisiert. Er geißelte das „Geschäft mit dem Tod“ und plädierte für die Verstaatlichung der Waffenindustrie, um sie dem „Einfluss der ganz besonders skrupellosen Kapitalisten zu entziehen.“
Dem Hass und der Lüge nicht entziehen
Sein Leitartikel für den 25. November ist eine Antwort an die Zensur. „Es ist schwierig, heute über die Freiheit der Presse zu schreiben, ohne gleich als Mata-Hari angeklagt zu werden.“ Oder ein „Neffe Stalins“ zu sein. Die Pressefreiheit sei nur ein Aspekt der Freiheit schlechthin. Aber es gehe darum, sie mit aller Hartnäckigkeit zu verteidigen, weil es keine andere Möglichkeit gebe, „den Krieg wirklich zu gewinnen“. Allerdings hielt er diesen Kampf für verloren: „Die Frage lautet nicht mehr, wie man die Pressefreiheiten erhalten kann.“ Sondern nur noch: „Wie ein Journalist, wenn diese Freiheiten aufgehoben sind, frei bleiben kann. Das Problem beschäftigt die Gemeinschaft nicht mehr. Es betrifft das Individuum.“
Er glaubt an die Möglichkeit, im „Krieg und in der Knechtschaft die Freiheit nicht nur zu erhalten, sondern zu manifestieren“. Vier Bedingungen zählt er auf: „Klarheit, Verweigerung, Ironie und Hartnäckigkeit“. Klarsichtig sei nur, wer sich dem Hass und der Lüge entziehe. „Man kann sich kaum vorstellen, dass Hitler sich der sokratischen Ironie bedient. Sie bleibt eine Waffe gegen die Allzumächtigen. Sie gehört zur Verweigerung und ermöglicht es, nicht nur die Lüge zu verwerfen, sondern die Wahrheit zu sagen.“
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Ein freier Journalist verzweifelt auch 1939 nicht, sondern kämpft für das, was er für wahr hält, als könnte er dadurch Einfluss auf den Lauf der Ereignisse nehmen. Er veröffentlicht nichts, was den Hass schüren oder die Verzweiflung fördern könnte.
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Zwar macht sich ein „freier Journalist 1939 keine Illusionen bezüglich der Intelligenz jener, die ihn unterdrücken“. Aber er muss ironisch sein, und sei es „widerwillig“, unfreiwillig: „Eine in dogmatischem Ton vorgebrachte Wahrheit wird in neun von zehn Fällen zensuriert. Wird die gleiche Wahrheit witzig formuliert, entgeht sie in fünf von zehn Fällen der Zensur.“ Albert Camus’ ernsthafter Leitartikel wurde nicht gedruckt. Und „Le Soir républicain“ nach 117 Ausgaben am 10. Januar 1940 endgültig verboten. Der arbeitslos gewordene Camus verließ im März - noch vor dem deutschen Angriff auf Frankreich - sein Heimatland und zog nach Paris, wo Pascal Pia für den Freund eine Stelle als Redaktionssekretär bei „Paris Soir“ gefunden hatte.
Den Bruch mit seiner Partei hatte er hinter sich
In der besetzten Hauptstadt ist Albert Camus im Widerstand tätig und publiziert in verbotenen Zeitschriften. Gleichzeitig teilt er das eher sorgenlose Leben vieler Dichter und Denker. Er schreibt Bücher, die zu den Klassikern der Nachkriegszeit werden: „Der Fremde“ erscheint 1942 mit dem Segen der deutschen Zensurbehörden, sein Stück „Le Malentendu“ (Das Missverständnis) wird auch noch unter der Besatzung uraufgeführt. Aus dem philosophischen Werk „Le Mythe de Sisyphe“ muss auf Geheiß des deutschen Zensurchefs Gerhard Heller das Kapitel über Kafka, den Juden, entfernt werden, was Autor und Verleger Gaston Gallimard akzeptieren.
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Ein freier Journalist bedient sich 1939 deshalb unvermeidlich der Ironie, wenn auch oft widerwillig. Doch Wahrheit und Freiheit sind anspruchsvolle Geliebte, die nur wenige Liebhaber haben.
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Nach dem Krieg blieb Albert Camus dem Journalismus noch lange erhalten. Er plädierte gegen die fanatischen Säuberungen in der Kultur. 1944 holte ihn Pascal zu der in der Résistance gegründeten Tageszeitung „Combat“. Camus wurde deren Chefredakteur und befasste sich weiter mit der Notwendigkeit eines freien Journalismus. In „Combat“ publizierte er seinen Essay „Ni bourreau, ni victime“: weder Henker noch Opfer. Es ist ein Schlüsseltext seiner politischen Ethik. Im Gegensatz zu den meisten Schriftstellern und Philosophen, die sich fortan für den Kommunismus entschieden, hatte Camus den Bruch mit der Partei längst hinter sich: Er war noch in Algerien ausgeschlossen worden. Seine Haltung im Kolonialkrieg vertiefte den Bruch zwischen ihm und den von Sartre angeführten Linksintellektuellen.
Ausgerechnet am Wochenende, an dem Frankreich des Friedensabkommens vor fünfzig Jahren in Evian gedachte, hat „Le Monde“ seinen ungedruckten Leitartikel in der algerischen Zeitung als Antwort auf die Zensur der Welt offenbart. Gefunden wurde er von Macha Séry, die in einem Beitrag über ihre Recherchen berichtet. „Wie der Fußball und das Theater“, schreibt sie, „war der Journalismus für Camus eine menschliche Gemeinschaft, in der er sich entfalten konnte, eine Schule des Lebens und der Moral.“ Aber auch mit den Camus-Spezialisten und -Biographen rechnet sie ab. Keiner hatte sich für die gestrichenen Abschnitte und verbotenen Artikel interessiert. Macha Séry fand sie in den Archiven der Zensur und des Geheimdienstes.