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Ulrich Beck über das Karlsruher Urteil : Höchstrichterlicher Populismus

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Weimarer Verhältnisse im Europäischen Parlament? Ulrich Beck in München. Bild: Julia Zimmermann

Hält sich das Verfassungsgericht für das bessere Parlament? Mit ihrer Entscheidung gegen die Dreiprozenthürde gefährden die Richter den europäischen Parlamentarismus. Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Beck.

          4 Min.

          Das Bundesverfassungsgericht hat die Sperrklausel bei den Europawahlen gekippt. Kann man in dieser Entscheidung etwas anderes als eine Schwächung des europäischen Parlamentarismus vor den anstehenden Europawahlen im Mai sehen?

          Ich frage mich zunächst einmal, welches Selbstverständnis der Richter in dieser Entscheidung zum Ausdruck kommt. Wenn das Bundesverfassungsgericht solch eine politisch einschneidende Entscheidung gegen den demokratischen Beschluss des nationalen Parlaments trifft, dann beunruhigt mich das. Ich wundere mich, woher die Damen und Herren des Bundesverfassungsgerichts dazu den Mut und die Legitimation nehmen, sind sie doch selbst nur ernannt und nicht demokratisch legitimiert. Wäre nicht ein größerer Respekt derjenigen, die die parlamentarische Demokratie schützen sollen, gegenüber Entscheidungen derselben angemessen?

          Das Verfassungsgericht beruft sich in seiner Entscheidung auf die Wahlrechts- und Chancengleichheit.

          Wir sehen in Europa, dass diese Frage zumindest sehr unterschiedlich beurteilt werden kann. Wir haben in Europa eine sehr große Pluralität, was die Sperrklausel betrifft. In Frankreich liegt sie bei fünf, in Italien bei vier Prozent. Man kann also geradezu zu der gegenteiligen Schlussfolgerung kommen, dass es zur Stärkung der Demokratie innerhalb des europäischen Parlaments wichtig ist, bestimmte Filter beizubehalten. Die Mehrheit unserer Abgeordneten hat ja den Drei-Prozent-Kompromiss für richtig erachtet. Punktum. Halten sich die Richter etwa für die besseren Abgeordneten?

          Wo sehen Sie das eigentliche Motiv?

          Ich habe den Eindruck, dass hier, zugespitzt gesagt, präventiv Weimarer Verhältnisse im europäischen Parlament hergestellt werden sollen, mit dem merkwürdigen Argument, dass die europäische Demokratie gerade keiner Stabilität bedürfe, weil es ja noch nicht so etwas wie eine europäische Regierung gibt. Das ist für mich ein Indiz, dass wir es hier mit einem verfassungsrechtlich verkleideten Europaskeptizismus zu tun haben.

          Bild: dpa

          Das Verfassungsgericht hatte sich schon anlässlich des Lissabonner Vertrags skeptisch zur demokratischen Legitimation des Parlaments geäußert. Unterdessen ist seine politische Bedeutung gewachsen. Es ist in die Gesetzgebung eingebunden, es übt Budgetrechte und politische Kontrollrechte aus. Neuerdings wählt es den Präsidenten der Kommission. Dafür ist eine organisierte Mehrheitsfindung wichtig, die mit dem Wegfall der Sperrklausel schwieriger wird. Ist die politische Realität hier weiter als das Karlsruher Urteil?

          Mir scheint hier geradezu eine Paradoxie vorzuliegen. Einerseits haben wir das europäische Parlament ermächtigt. Gleichzeitig werden nun allen möglichen politischen Anliegen Tür und Tor geöffnet, insbesondere auch den antieuropäischen Parteien.

          Die Zahl der EU-Skeptiker innerhalb des Parlaments wird durch das Karlsruher Urteil wahrscheinlich wachsen, weil die Hürden für extreme Parteien niedriger werden. Mit welchem Recht kann ihnen die politische Repräsentation ihrer Stimmen verweigert werden?

          Diese Debatte hat das deutsche Parlament längst geführt und aus der Erfahrung der deutschen Vergangenheit heraus mit guten Gründen für die moderate Drei-Prozent-Sperrklausel votiert. Es geht hier auch gar nicht um eine rechtliche Argumentation, sondern um eine bereits demokratisch getroffene Entscheidung, die gekippt wurde. Aber das Verfassungsgericht darf sich doch nicht in die Rolle eines un- und überdemokratischen Gegenparlaments hineinsteigern.

          Die Karlsruher EU-Skepsis hat ein breites Fundament. Der Bedeutungsanstieg des Parlaments hat offenbar nicht zu einem größeren Vertrauen in die europäischen Institutionen geführt. Gibt das Urteil die Diskrepanz zwischen der Europaskepsis der Bevölkerung und der Europafreundlichkeit der großen politischen Parteien nicht treffend wieder?

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