Tunesien nach der Wahl : Das Volk war nicht vorbereitet
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Der frühere Menschenrechts-Aktivist und heutige tunesische Staatspräsident Moncef Marzouki bei der Wahl Bild: REUTERS
In Tunesien nahm der arabische Frühling seinen Anfang. Säkular ausgerichtete Intellektuelle waren nicht überrascht über den Wahlsieg der islamischen En-Nahda-Partei und sind dennoch besorgt.
Wenn Samir Dilou angerufen wird, erklingt Beethovens „Für Elise“. Monophon - sein Handy ist ein etwas veraltetes Modell. Ansonsten jedoch ist das Auftreten des Politikers so westlich wie sein Klingelton. Dilou ist bei der En-Nahda-Partei, die in Tunesien die Wahl gewonnen hat, zuständig für internationale Zusammenarbeit. Der dunkle Anzug sitzt hervorragend, die Brille erinnert an jene von Felix Magath. Und wenn Dilou redet, dann klingt es einladend. Gemäßigt. Aufgeklärt. Er muss in diesen Tagen häufig mit besorgten westlichen Journalisten sprechen. Denn der Westen fürchtet sich etwas vor En-Nahda. So auch tunesische Intellektuelle.
Dilou begegnet dem mit Schlagfertigkeit. Er weiß, dass Humor besser ist als Pathos, wenn es darum geht, die Ängste vor radikalislamischen Tendenzen zu zerstreuen: „En-Nahda wurde nicht in den Höhlen von Tora Bora geboren“ ist so ein entwaffnender Dilou-Satz. Ebenso wie der Slogan, den er ausländischen Journalisten als Werbung für den tunesischen Tourismus ans Herz legt: „Bräunen Sie sich auf demokratische Art.“ Dilou, der unter dem gestürzten Präsidenten Ben Ali zehn Jahre im Gefängnis saß und seit 2001 als Anwalt für politisch Verfolgte arbeitete, ist ein klug gewählter Repräsentant.
Die Worte blieben hängen
In der verfassungsgebenden Versammlung verfügt seine Partei über 89 von 217 Sitzen. Der Parteichef Rachid Ghannouchi lebte 22 Jahre lang im Londoner Exil. Viele Tunesier empfinden den Siebzigjährigen deshalb fast als Märtyrer. Nach den Wahlen haben sich säkulare und islamische Parteien auf eine Aufteilung der Staatsämter geeinigt. Der am vergangenen Dienstag vereidigte Präsident Moncef Marzouki vom linken „Kongress für die Republik“ hat am Mittwoch absprachegemäß Hamadi Jebali, den Generalsekretär von En-Nahda, zum Ministerpräsidenten ernannt.
Nicht alle Islamisten reden wie Dilou: Die Politikerin Souad Abderrahim bezeichnete ledige Mütter vor einigen Wochen als „Schande für Tunesien“. Und der neue Premier der Übergangsregierung, En-Nahdas Generalsekretär Hamadi Jebali, sagte zu einem Vertreter der radikalislamischen Hamas, Tunesien sei auf dem Weg in ein „sechstes Kalifat“. Später nannte er das zwar ein „Missverständnis“, doch die Worte blieben hängen.
Mit der Revolution im Januar hat Tunesien den arabischen Frühling losgetreten. Früher galt das Land als säkularer Musterstaat; nun soll es, so die Hoffnung in westlichen Hauptstädten, weiter Vorbild für die Region sein. Bei der ersten freien und demokratischen Wahl - nach Ansicht internationaler Beobachter war sie tatsächlich frei und demokratisch - gab das Volk einer islamistischen Partei die meisten Stimmen. Das Ergebnis überraschte viele westliche Medien und Politiker. Die Berichterstattung, zumindest in den ersten Wochen, erweckte häufig den Eindruck, die Tunesier hätten etwas falsch gemacht. Doch was eigentlich?
Für linke Intellektuelle im Land ist der Wahlausgang zweifelsohne eine herbe Niederlage. Überraschend ist er aber nicht. „Es war klar, dass En-Nahda die meisten Sitze erringen würde“, sagt etwa Fadhel Jaibi. Der Theaterregisseur und -autor machte in seinem im September bei den Berliner Festspielen aufgeführten Stück „Yahia Yaïch - Amnesia“ den Sturz Ben Alis schon zum Thema, als der Präsident noch im Amt war. Zu Zeiten Ben Alis litt Jaibi unter der Zensur, konnte aber arbeiten, da er immer wieder Stücke im Ausland inszenierte. Wie in allen Ländern, klagt er, lasse sich auch in Tunesien das Volk von der Religion verführen. Schließlich verspreche diese das Paradies. „Wenn man da mit Marxismus gegenhält, ist das, als ließe man Bayern München gegen ein kleines tunesisches Fußballteam antreten.“ In Tunesien sind die Linken elitär. Und die Konservativen populistisch.
Alle Stimmen haben dasselbe Gewicht
En-Nahda verstand es am besten, die Wähler zu mobilisieren. Vor allem in den ärmeren Regionen war die Partei stark vertreten, putzte Klinken. Unter der grotesken Anzahl von 116 Parteien war sie die bekannteste. Genügt das als Erklärung? „Es stimmt schon, die Tunesier wollen ein moderates islamisches System“, sagt Jaibi. „Aber eines, das diejenigen akzeptiert, die einen progressiven, laizistischen und modernen Entwurf wünschen.“ Innerhalb des Volkes, so der Theaterregisseur, sei das politische Bewusstsein noch nicht sehr weit entwickelt. Es sei auf diese Revolution schlicht nicht vorbereitet gewesen - das klingt fast, als ob nicht sein könne, was nicht sein darf.