Tove Jansson, die Mutter der Mumins : Bist du Schnupferich oder der Muminpapa?
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Muminmutter mit Familie Bild: picture-alliance/ dpa
Alle Welt kennt die Mumins. Die Trollwesen der finnischen Malerin Tove Jansson gelten als Inbegriff der heilen Familie. Doch der Horizont der Künstlerin war sehr viel weiter. Eine Würdigung zum hundertsten Geburtstag.
Die Südsee sollte es sein, wenn schon Auswandern, dann richtig. Also schrieben die fünfunddreißigjährige Tove Jansson und ihr zwölf Jahre jüngerer Bruder Lars an den Gouverneur des Inselstaats Tonga, ob sie dort willkommen seien. Das war 1949, Finnland trug immer noch schwer an den Folgen des Krieges, und nicht nur die Geschwister Jansson suchten eine Zukunft in weiter Ferne. Doch die Antwort des Gouverneurs fiel ungünstig aus, so dass sich dieses Projekt ebenso zerschlug wie einige Jahre zuvor die Gründung einer finnischen Künstlerkolonie in Marokko. Tove Jansson blieb ihrem Heimatland erhalten und lebte bis zu ihrem Tod abwechselnd in Helsinki und auf einer Insel im Finnischen Meerbusen. Was wäre in der Fremde aus ihr geworden, aus ihrem Malen und Schreiben, aus den Mumins?
Die Mumins: Dass der Name und das Werk Tove Janssons heute weltweit bekannt sind, verdankt sie den Trollwesen, die sie irgendwann zwischen 1930 und 1945 erschuf und die bis heute ihr übriges Werk überschatten. Sie tauchen als knubbelige Gestalten mit langer Schnauze auf den frühen Bildern der 1914 geborenen Jansson auf, unvermittelt, als kleine schwarze Störenfriede in den Städten oder Landschaften. Später erklärte die Künstlerin die Herkunft dieser Wesen mit einer Episode aus ihrer Kindheit – ein Onkel, den sie in Schweden besuchte, warnte sie vor „Mumins“, die durch die Wohnung geisterten, wohl um das Kind von nächtlichen Streifzügen abzuhalten.
Eine eigene Geschichte erhielten die Mumins aber erst um 1944, als Tove Jansson mit „Mumins lange Reise“ das erste von insgesamt neun erzählten Büchern zu diesem Kosmos schrieb. Es handelt vom Wiederfinden der getrennten Familie in jenem Tal, das einmal zum Mumintal werden sollte, und es fällt nicht schwer, in diesem schmalen Roman mit märchenhaft unwirklichen Zügen einen Abglanz der Zeitgeschichte zu finden: Das Leid der Frauen und Kinder, die auf die Heimkehr der im Krieg versprengten Väter und Brüder warten, das überbordende Glück, wenn man sich gegen alle Wahrscheinlichkeit doch noch in die Arme läuft, und die Energie des Neuanfangs in der Heimat – der Muminvater jedenfalls wird am Ende des Romans mit dem Bau des charakteristischen Wohnturms anfangen, wie man ihn aus den späteren Mumindarstellungen kennt.
Auf den ersten Blick sind die Mumins harmlose Wesen
Dort bildet sich auch der Rahmen heraus, in dem die Figuren agieren: Im Zentrum steht der junge Mumin, der sich neugierig auf die Welt und ihre Abenteuer einlässt und sich doch nicht von der sanften Muminmutter lösen mag, die ein großes Herz und viel Verständnis noch für die wunderlichsten Zeitgenossen hat. Als sie einmal kurz vor dem erwarteten Weltuntergang von einem ängstlichen kleinen Gespenst gefragt wird, ob Geister eigentlich auch sterben könnten, sagt sie beruhigend „Aber nein!“, und wer sie hört, der weiß, dass der Weltuntergang im Beisein der Muminmutter sicher nicht so schlimm wird wie befürchtet.
Der bequeme Muminvater sehnt sich insgeheim nach Abenteuern, weiß aber am Ende die Sicherheit des Mumintals zu schätzen. Daneben gibt es den ruhelos wandernden Schnupferich, die unbändige Kleine Mü, die ordnungsliebenden Hemule, das kindlich egoistische Schnüferl und zahlreiche andere Gestalten, die im Lauf der Zeit zur Kernfamilie der Mumins dazustoßen und dort mit offenen Armen aufgenommen werden.
Auf den ersten Blick sind die Mumins vor allem niedliche, harmlose Wesen, und um die vielen Tierchen und kleinen Fabelgestalten, die sie umgeben, steht es nicht anders – selbst widerborstige und griesgrämige Züge an ihnen wirken zunächst einmal amüsant. Die Optik, die Ästhetik, die geniale äußere Gestalt dieses Kosmos dominiert unsere Wahrnehmung. Davon lebt eine ganze Mumin-Industrie: Sie produziert Kuscheltiere, Geschirr, Sand- und Kuchenförmchen, Zeichentrickfilme und Comics, Wäsche, Spielzeug und Lebensmittel, es gibt ein Muminmuseum in der finnischen Stadt Tampere und einen Freizeitpark auf einer Insel vor der Südwestküste Finnlands, wo man die Muminmutter für ein Foto umarmen oder dem Muminvater dabei zusehen kann, wie er seine Memoiren in eine alte Schreibmaschine tippt.
Zwischen sozialen Rollen und individueller Freiheit
Doch all dies ist höchstens die halbe Wahrheit. Denn so wie in „Don Quijote“ (Gibt es einen Weg, die wahnhafte Perspektive des Einzelnen mit derjenigen der Mehrheit zu vermitteln?) oder „Gullivers Reisen“ (Welche staatliche Ordnung ist die beste?) wird auch in den Mumins im Medium einer abenteuerlichen Handlung eine zentrale Frage menschlichen Zusammenlebens verhandelt. Es geht um die Familie, um Rituale und Bindungen, es geht um die Rolle, die jeder einnimmt oder zugewiesen bekommt, es geht um die individuelle Freiheit, die man in diesem Rahmen noch besitzt – und um den Preis, den man dafür zahlt.
Am auffälligsten zeigt sich das an einer Gestalt, die eigentlich an der Peripherie des Muminkosmos steht. Den Schnupferich lernt Mumin im 1946 erschienenen Roman „Komet im Mumintal“ kennen, als er mit Schnüferl auf einem Floß unterwegs ist und am Zelt des Schnupferich vorbeitreibt. Auf die eigentlich sinnlose Erwähnung Schnüferls, Mumins Vater hätte gerade „ein ganzes Haus gebaut“, sagt der Schnupferich erst „ach so?“ und dann: „Ich wohne mal hier, mal dort. Heute zufälligerweise hier, morgen woanders. Das ist der Vorteil, wenn man im Zelt wohnt.“
Mumin bewundert den Schnupferich, der aber seine Freiheit, jederzeit aufzubrechen, eisern verteidigt. Er hinterlässt dann in jedem Herbst einen Abschiedsbrief für Mumin und kündigt seine Rückkehr für „den ersten warmen Frühlingstag“ an. Niemand, so wünscht er sich, möge sich auf ihn verlassen. Und als ihm einmal vierundzwanzig kleine Waldkinder zufallen, reagiert er für seine Verhältnisse geradezu verzweifelt. Zum Glück für alle ist er die Kinder bald wieder los.
Der Schnupferich als Sinnbild des Künstlers
Warum ist er so? Erhellend ist die Erzählung „Die Frühlingsmelodie“. Jansson erzählt, wie ein namenloses Tierchen den Schnupferich allein durch seine Anwesenheit bei der Komposition eines Liedes stört, das durch Naturgeräusche wie das Plätschern des Bachs inspiriert ist. Als Künstler, so glaubt der Schnupferich, muss er allein sein, und schon die Vorstellung, für ein Publikum zu spielen oder zu lesen, ist ihm suspekt: „Warum können sie mir meine Wanderungen nicht lassen? Begreifen sie denn nicht, dass ich alles kaputtrede, wenn ich davon erzählen muss? Dann ist es verschwunden, und wenn ich daran denke, erinnere ich mich nur noch an meine eigene Erzählung.“
So weit, so viel Künstlerklischee. Brüchig wird die Sache dann aber, als der Schnupferich das lästige Tierchen von sich gewiesen hat und in der Folge plötzlich feststellen muss, dass er nicht mehr zurückfindet in die begonnene Komposition. Das Gefühl, dem Tierchen Unrecht getan zu haben, lähmt ihn. Und die Geschichte lässt offen, welche Konsequenz sich daraus ergibt: Auch der Künstler agiert nicht ohne Resonanz durch die anderen und sollte sich deshalb um ein angemessenes Miteinander bemühen? Oder ist es gerade umgekehrt: Ist man als Künstler verloren, wenn man sich in der kritischen Schaffensphase auch nur ein bisschen auf sein Umfeld einlässt?
Der Schnupferich, so heißt es, gehe wenigstens in Teilen zurück auf einen Liebhaber Tove Janssons, den Journalisten und Politiker Atos Wirtanen, über den sie in einem Brief an eine Freundin schrieb: „Ich weiß, dass er nicht so lieben kann, wie wir das zu tun pflegen. Er mag mich, so wie er die Sonne, die Erde, das Lachen, den Wind mag. Mehr, aber auf die gleiche Weise.“ Eine für das Frühjahr 1948 geplante Hochzeit fand dann auch nicht statt, weil sich Wirtanen nicht ernsthaft um die benötigten Papiere kümmerte.
Familiäre Verstrickungen auch jenseits der Mumins
Der Schnupferich jedenfalls wird gespiegelt in der Gestalt des gemütlichen Muminpapa, der – Familienvater und Hausbesitzer, der er nun ist – sich in seiner Hängematte nach den Abenteuern des Schnupferich sehnt und von seiner „wildbewegten Jugend“ (so der Titel eines weiteren Mumin-Romans) erzählt. Die Angst, dadurch den unmittelbaren Zugang zum Erlebten zu verlieren, hat er nicht – ganz anders als der Schnupferich. Und es scheint, als hätte Tove Jansson hier ganz bewusst zwei männliche Rollenmodelle gegeneinander gestellt, zwischen denen man sich wahrscheinlich von einem gewissen Alter an entscheiden muss. Um dann, hat man das eine erst einmal bewusst gewählt, vom anderen zu träumen.
Vor einigen Jahren sind die Mumin-Bücher in vorzüglicher neuer Übersetzung von Birgitta Kicherer im Arena-Verlag auf deutsch herausgekommen. Auch einige (nicht alle) der Bücher, die Tove Jansson seit den späten sechziger Jahren für ein erwachsenes Publikum geschrieben hat, sind in diesem Sommer, pünktlich zum heutigen hundertsten Geburtstag Janssons, in den Verlagen Lübbe und Urachhaus erschienen – allen voran das hinreißende Erinnerungsbuch „Die Tochter des Bildhauers“. Und auch Tuula Karjalainens Biographie der Künstlerin liegt seit kurzem bei Urachhaus vor.
Sie alle zeigen, wie sehr Tove Jansson auch jenseits der Mumins mit der Frage von familiären Verstrickungen beschäftigt war, wie abgründig ihre Befunde dazu sind und wie fragil die gezeichneten Bilder. Denn der schusselige, spontane, lebensfrohe Vater, wie er in „Die Tochter des Bildhauers“ erscheint, offenbart im selben Buch auch Seiten, die ihn zu einer Plage seiner Familie machen, der er sorglos Lasten aufbürdet, die kaum zu tragen sind.
Eine alte, unfassbar junge Frau im Wollpullover
Seit diesem Frühjahr zeigt nun auch eine Ausstellung in Helsinkis Prachtmuseum Ateneum“, wie sehr die eigene Familie das Werk Tove Janssons bestimmte. Zunächst, indem sie die Herkunft aus dem Künstlerhaushalt betont, was nicht nur dazu führte, dass das Mädchen schon früh in die entsprechenden Mal-, Zeichen- und Modelliertechniken eingeführt wurde, sondern auch zum Modell ihres Vaters etwa für eine Seejungfrauskulptur diente. Ihre Mutter, die als Grafikerin über lange Jahre wesentlich den Lebensunterhalt der Familie bestritt, malte sie als Indianerin. Und natürlich malte Tove Jansson sich selbst, immer wieder, in ganz unterschiedlichen Stilen, aber meist mit dem selben, spöttischen Blick, dem „Na wartet!“-Lächeln und gern auch einer Zigarette in der Hand.
Ein Bild von 1942 zeigt die Familie: Im Vordergrund Tove Janssons Brüder beim Schachspiel, einer von ihnen trägt Uniform. Vater und Mutter in größtmöglicher Entfernung voneinander. Und im Zentrum die Malerin selbst, ganz in Schwarz und wie die anderen ernst und angespannt. Es ist Krieg, unübersehbar, und über allem steht die Frage, was diese Familie noch zusammenhält – eine Frage, die Tove Jansson angesichts des schwierigen Verhältnisses zu ihrem Vater auch jenseits dieses Bildes beschäftigte.
Sie selbst fand ihre längste und tiefste Bindung, so scheint es, als sie sich in die Künstlerin Pietilä Tuulikki verliebte. Die beiden blieben über fünfzig Jahre zusammen, bis zum Tod Tove Janssons im Jahr 2001. Eines der allerschönsten Exponate dieser Ausstellung ist ein kurzer Stummfilm, eigentlich ein Schnipsel. Er zeigt Tove Jansson wohl um 1970 tanzend auf der winzigen Insel, auf der das Paar die Sommermonate verbrachte, sehr wahrscheinlich aufgenommen von ihrer Freundin. Eine alte, unfassbar junge Frau im Wollpullover, strahlend und völlig furchtlos, tanzt schlenkernd, manchmal stolpernd, manchmal schlagen die Hacken aneinander, sie dreht sich und kommt ganz nah an die Kamera. Sie lacht. Und man gäbe einiges darum, wenn man ihre Musik hören könnte.