Tourismus-Supermacht China : Alle Menschen werden Brüder
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Chinesische Touristinnen in Neuschwanstein Bild: picture-alliance / dpa/dpaweb
Die Deutschen sind ihren Titel als Reiseweltmeister los. Niemand gibt inzwischen mehr Geld fürs Reisen aus als die Chinesen. Überhaupt werden uns die asiatischen Touristen bald überrennen. Und wir sollten uns darüber freuen.
Wer viel in der Welt herumreist, erlebt immer häufiger solche verstörenden Momente: Irgendwo in Asien kommt man in ein besseres Hotel, betritt ohne böse Ahnung die Lobby, weil man das übliche Stileinerlei der gehobenen internationalen Hotellerie erwartet, steht dann aber ein wenig konsterniert in einer kunterbunten Welt aus Plüsch und Prunk, Blattgoldräuschen und Glitzerkrimskram, altkleidercontainergroßen Ming-Vasen-Kopien und glupschäugig feuerzüngelnden Drachenmonstern und kann sich diese Geschmacksexzentrik nicht recht erklären - bis einem ganz trocken erklärt wird, dass es das chinesische Publikum gern so farbenfroh und mit puristischem Bauhaus-Minimalismus nichts im Sinn habe.

stellvertretender Leiter des Feuilletons.
Noch ganz benommen von diesem Riesenchinarestaurant, geht man auf sein Zimmer, stellt den Fernseher an und muss sich durch sechs Dutzend asiatischer Sender zappen, bis man ganz hinten endlich bei der guten alten BBC landet. Das war vor nicht allzu langer Zeit noch anders. Spätestens in diesem Moment dämmert es selbst dem größten Optimisten: Es wird - zumindest touristisch - allmählich Abend fürs Abendland. Dreitausend Jahre lang währte die unantastbare Hegemonie des Alten Kontinents in der Welt des Reisens. Wir Europäer definierten den Kanon der Touristenattraktionen, wir setzten die ästhetischen Maßstäbe und exportierten unsere Stile. Unsere Schriftsteller prägten das Bild des Fremden, Fernen, Exotischen und erfuhren dafür in der „Writers Bar“ des Raffles in Singapur oder der „Author’s Lounge“ des Oriental in Bangkok scheinbar ewig währende Huldigung. Seit Plinius und Strabon, Marco Polo und Magellan, Kolumbus und James Cook waren es fast immer Europäer, die in die Welt hinausfuhren, um sie zu entdecken, zu erobern, zu entschlüsseln. Wir waren die Sonne im Kosmos des Reisens. Doch jetzt hat sich unser schöner Eurozentrismus aufgelöst und weht nur noch als Schleier der Nostalgie um unsere Köpfe.
China, die neue Tourismus-Supermacht
Die Zukunft gehört Asien. Der schlagendste Beweis dafür ist die Entthronung der Deutschen als Reiseweltmeister. Im vergangenen Jahr haben wir diesen Titel an die Chinesen verloren, die erstmals mehr Geld für Auslandsreisen ausgaben als jede andere Nation auf Erden, geschätzte neunzig Milliarden Dollar. Die Chinesen sind heute schon in ganz Asien und bald auch in aller Welt die neue touristische Supermacht mit monumentalem Selbstbewusstsein, gegen deren numerische Überlegenheit sich die europäischen Reisenden eines Tages wie eine versprengte Freischärlertruppe ausnehmen werden. Da fällt den Hoteldirektoren die Entscheidung nicht schwer, wie sie ihre Lobbys dekorieren.
Im vergangenen Jahr haben zum ersten Mal in der Geschichte mehr als eine Milliarde Menschen eine Auslandsreise unternommen. Für das Jahr 2030 prognostiziert die Welttourismusorganisation in Madrid 1,8 Milliarden grenzüberschreitende Reisen - mehr als viermal so viele wie 1990 - und erklärt aus gutem Grund den Fremdenverkehr zur Schlüsselindustrie des 21.Jahrhunderts. Noch verreisen zwar doppelt so viele Europäer wie Asiaten, doch deren schwindelerregende Wachstumsraten lassen unseren Vorsprung schmelzen wie die Eiswürfel im Gin Tonic an der Strandbar. Nicht nur für eine Milliarde Chinesen, auch für genauso viele Inder, für Millionen Vietnamesen, Thailänder oder Burmesen ist das Reisen noch ein illusorischer Traum. Doch eines Tages wird er wahr werden - wahr werden müssen, weil auch diese Menschen das Reisen als Menschenrecht begreifen. Sie werden es in Anspruch nehmen, ihre Koffer packen, in Flugzeuge steigen, koste es, was es wolle, und sei es die Gesundheit des Weltklimas.