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Für eine neue Publikationskultur : Entschleunigung der Forschung - aber wie?

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Zurück zu einer Symmetrie von Titel- und Leserzahl: der Lesesaal der Berliner Humboldt-Bibliothek

Zurück zu einer Symmetrie von Titel- und Leserzahl: der Lesesaal der Berliner Humboldt-Bibliothek Bild: dpa

Ein wissenschaftlicher Text hat oft kaum mehr Leser als Autoren. Ein Vorschlag zur Begrenzung des Publikationswahns.

          6 Min.

          Eine „Entschleunigung der Wissenschaft“ und mehr Zeit zur kritischen Reflexion forderten renommierte Wissenschaftler und Verbandsfunktionäre zuletzt in der Zeitschrift des Hochschulverbandes (Forschung & Lehre, 6/2011) in ihren Thesen zur Sicherung von Integrität und Qualität in der Wissenschaft. Der Teufel steckt dabei im Detail. Greifen wir die Eindämmung der Publikationsflut heraus. Angestrebt wird eine Reduzierung der Zahl der Veröffentlichungen in Relation zur Zahl der Wissenschaftler, zugleich eine Reduzierung der Zahl wissenschaftlicher Journale. Ziel sollte es sein, Erkenntnisse zu bündeln und damit ihre Wahrnehmbarkeit und kritische Diskussion zu fördern.

          Eine schlichte Quotierung von Publikationen erscheint ebenso wenig realistisch wie wünschenswert. Konkrete Verbesserungsvorschläge dürften wohl kaum ohne eine Differenzierung nach wissenschaftlichen Disziplinen zu finden sein. Ich beschränke mich auf das Feld der Geisteswissenschaften. Ein Zuviel an Journalen stellt hier eindeutig nicht das Kernproblem dar. Seit vielen Jahrzehnten leben diese Disziplinen mit einer Vielzahl von wissenschaftlichen Zeitschriften unterschiedlichster Ausrichtung - in meinem Fach, der Geschichtswissenschaft -, ausdifferenziert z. B. nach Epochen, Regionen, Subdisziplinen oder je eigenem methodisch-theoretischen Ansatz; und sie leben damit insgesamt nicht schlecht. Die eigentliche Schwierigkeit besteht vielmehr darin, dass ein wachsender Anteil von Aufsätzen nicht mehr in Zeitschriften, sondern in Sammelbänden erscheint.

          Ein solcher Sammelband entsteht gewöhnlich im Gefolge (oft Jahre später!) von Workshops, Tagungen und Kongressen. Tatsächlich existiert ein gewisser Zwang zur Publikation der Tagungsergebnisse, dem sich die Beteiligten kaum entziehen können. Auch die Drittmittelgeber von Tagungen haben ein legitimes Interesse daran, dass die Ergebnisse der von ihnen finanzierten Projekte einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Weiterhin machen sich Herausgeberschaften im Publikationsverzeichnis nicht schlecht, zeugen sie doch von intellektueller Vernetzungsfähigkeit.

          Geringes Risiko, kleiner Gewinn

          Das gilt besonders für Nachwuchswissenschaftler, die derartige Publikationen als Visitenkarten benötigen. Überdies darf man als Veranstalter zweifeln, ob die Teilnehmenden die Zusammenkunft überhaupt ernst nähmen, wüssten sie, dass keine Publikation erfolgt. Umgekehrt sehen sich die Beiträger einer Tagung ebenfalls in der Pflicht, ihre meist kürzeren Vorträge auszubauen und nach allen Regeln der Kunst mit Belegen zu versehen. Bei der nächsten eigenen Tagung sind sie ebenso auf das Funktionieren der wechselseitigen Verpflichtung von Veranstalter und Referenten angewiesen. So wird ein Kreislauf der Produktion von Sammelbänden am Laufen gehalten, an dem auch die Buchverlage ein Interesse haben, die mit den in aller Regel vorfinanzierten Endprodukten keinerlei unternehmerisches Risiko mehr eingehen und damit einen kleinen, aber sicheren Gewinn einfahren.

          Obwohl es sich bei den so entstehenden Bänden in aller Regel zweifellos um hochwertige Produkte handelt, verkörpern sie das Kernproblem geisteswissenschaftlicher Publikationskultur, und zwar auf einer qualitativen wie auf einer quantitativen Ebene. Was das Produkt angeht, so ist eine wirkliche Qualitätskontrolle für die Herausgeber nur eingeschränkt möglich. Meist gilt: Wer zur Tagung eingeladen wurde, dessen Beitrag wird auch in den Sammelband aufgenommen. Nur wenige Herausgeber im deutschen Sprachraum trauen sich nach meiner Beobachtung, Vorträge nicht zur Verschriftlichung zuzulassen, weil ihre Qualität nicht hoch genug erscheint oder auch, weil dieser thematisch doch nicht so einschlägig war wie vorher angenommen. Je nach Zeit und Temperament werden engagierte Editoren vielmehr versuchen, den Beitrag durch intensive Betreuung und Kritik zu verbessern - ein Unterfangen, das erfahrungsgemäß nur begrenzten Erfolg verspricht.

          Oft liest nur noch der Gutachter

          So ist die inhaltliche Qualität der Beiträge nicht selten heterogen, ebenso ihre thematische Passgenauigkeit zum Oberthema des Bandes. Viele hochwertige Aufsätze verbergen sich zudem in Bänden, wo sie der Fachwissenschaftler kaum vermuten würde. Interdisziplinäre Forschungsverbünde erstellen im Extremfall hybride Buchbindersynthesen, die böse Zungen schon einmal als „Gutachterliteratur“ geschmäht haben. All das hängt damit zusammen, dass sich die Bände meist nicht - wie im englischsprachigen Bereich - als marktgängiges Produkt verkaufen müssen. Das bereits angesprochene System der Druckkostenzuschüsse sorgt dafür, dass so ziemlich alles publiziert werden kann, was der oder die Herausgeber für sinnvoll halten. Ein weiteres Problem besteht schließlich darin, dass für die Beiträger die Versuchung groß ist, bereits Geschriebenes und Gedachtes mit geringen Modifikationen an das Rahmenthema noch einmal zu publizieren.

          Allerdings sind die Auswirkungen der beschriebenen Sammelbandkultur auch für die Produzenten sehr ambivalent, denn die immateriellen Kosten sind hoch. Meist müssen sie sich zweimal intensiv mit einem Beitrag beschäftigen, zum ersten Mal mit dem Referat im Vorfeld der Tagung, zum zweiten Mal dann mit der erweiterten Verschriftlichung im Nachklang. Gefragte Referenten sind mit der Abfassung von Sammelbandbeiträgen streckenweise vollauf ausgelastet. Sie sind nur mehr in der Lage zu reagieren, können kaum ihre eigene Forschungsagenda verfolgen, eigene Ergebnisse bündeln und in zentralen wissenschaftlichen Zeitschriften zur Diskussion stellen. Stattdessen fügen sie sich in die Tektonik von Fragestellungen ein, die ihnen die Tagung vorgibt. So gerne viele von uns auf Tagungen gehen, so sehr treibt gerade der Tagungsbetrieb das eingangs angedeutete Hamsterrad der Wissenschaft an.

          Masterformat der Wissenschaft

          Den wissenschaftlichen Zeitschriften als den traditionellen Plattformen der Fächer werden durch die Sammelbände viele potentielle Beiträge entzogen. Dabei dürften die meisten Kollegen kaum das meist strengere Begutachtungsverfahren bei den Journalen scheuen; eingebunden in die Verpflichtungen des Tagungsbetriebes fehlt ihnen vielfach einfach Kraft und Energie, die Zeitschriften zu bedienen.

          Wie wäre Abhilfe zu schaffen? Eine Möglichkeit wäre es, die Zahl der wissenschaftlichen Tagungen zu reduzieren. Ein solcher Schritt erscheint wiederum weder realistisch noch wünschenswert. Denn derartige Kongresse sind (bei aller möglichen Kritik an thematischen Ausrichtungen und formaler Gestaltung) aus gutem Grund ein Masterformat der Wissenschaft. Sie dienen dem unabdingbaren wissenschaftlichen Austausch auf offizieller wie informeller Ebene.

          Eine andere Option wäre es, den Tagungsbetrieb von der Veröffentlichung seiner Ergebnisse zu entkoppeln. Doch wer wollte im Zeitalter der Massenmedien die Präsentation von Tagungsvorträgen künstlich auf den Kreis einer Präsenzöffentlichkeit beschränken? Die Diskussion von Thesen und Arbeitsergebnissen im Kreis von Anwesenden ist notwendig, eine Beschränkung auf diesen Kreis wissenschaftlich unlogisch und darüber hinaus wissenschaftspolitisch kaum zu legitimieren.

          Mitlesende Abwesende

          Ein gangbarer Weg wäre aus meiner Sicht die Entkopplung des Tagungszirkus vom Markt der Druckmedien, indem eine Tagungsdokumentation via Internet im Open Access Verfahren obligatorisch gemacht wird. Binnen weniger (drei, höchsten sechs) Monate sollten die Manuskripte der jeweiligen Tagung, versehen mit den notwendigsten Anmerkungen und Nachweisen sowie aufgrund des Tagungsdiskussion inhaltlich revidiert, ins Netz gestellt werden. Den Verpflichtungen gegenüber Wissenschaft und Gesellschaft wären Genüge getan, die Ergebnisse stünden der Öffentlichkeit im Kern sogar schneller und umfassender zur Verfügung als heute.

          Eine solche Netzveröffentlichung wäre zitierfähig, dürfte aber einer Weiterverwendung der Beiträge für andere Zwecke und auch für den Druck nicht im Wege stehen. Die Veranstalter könnten ohne Verpflichtungen überlegen, ob sie aus der Tagung einen druckfähigen und kohärenten Sammelband entwickeln wollen, könnten einzelne Beiträger zur Weiterentwicklung und zum Ausbau ihrer Aufsätze ermuntern, andere einwerben, wären andererseits aber nicht verpflichtet, alle Tagungsteilnehmer zur Partizipation am Druckerzeugnis aufzufordern. Die Beiträger ihrerseits wären frei, es bei der Netzpublikation zu belassen, ihre Aufsätze zu einem Sammelbandbeitrag zu entwickeln oder einer Zeitschrift zum Druck anzubieten.

          Die Sichtbarkeit erhöhen

          Natürlich bedürfte ein solches System einiger Rahmenbedingungen. Erstens müssten diejenigen Institutionen, die Tagungen durch ihre Zuschüsse möglich machen, Veranstalter und Beiträger darauf verpflichten, ihre Referate binnen einer gewissen Zeitspanne im Open Access Verfahren zu veröffentlichen. Zweitens müssten sich alle Beteiligten auf relevante Plattformen einigen, wo derartige Tagungsdokumentationen eingestellt werden könnten und die gewisse editorische Mindeststandards garantieren. (Dabei könnte es sich um fachliche Internetforen handeln, wie z. B. historicum.net, es könnten aber auch regionale Anbieter wie Universitätsbibliotheken sein.)

          Drittens müsste die Bezuschussung von Sammelbänden durch die DFG und andere Drittmittelgeber überdacht werden. Sammelbände, für die Zuschüsse beantragt werden, müssten in Bezug auf ihre Kohärenz und ihre Qualität kritischer als bisher evaluiert werden. Es wäre überdies zu überlegen, ob nicht ein Teil dieser Zuschüsse für Übersetzungen, vornehmlich ins Englische, umgewidmet werden sollten, um auf diesem großen Buchmarkt konkurrenzfähige Bände zu platzieren, die dann sich dann über den Verkauf selbst tragen würden; dies würde auch die Sichtbarkeit der deutschen Geisteswissenschaften erhöhen.

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