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Bestseller: Erziehen auf Chinesisch : Wie die Tigermutter ihre Kinder zum Siegen drillt

„Bei uns erziehen die Kinder die Eltern statt umgekehrt“, bemerkt ein Kommentator. Aber was nützt all das perfekte Beherrschen einer Partitur, kritisiert ein anderer, wenn man sie nicht interpretieren kann? „Wegen einer Mutter wie Amy Chua musste ich in die Psychiatrie“, klagt die Tocher asiatischer Einwanderer. Dass unter jungen Chinesinnen in Amerika heute Selbstmord die zweithäufigste Todesursache ist, lässt an Japan in den achtziger Jahren denken.

Bisweilen will man kaum glauben, welchen Torturen Amy Chua ihre Töchter unterwirft. Schon die vierjährige Louise muss das bitter lernen: Als sie ihrer Mutter zum Geburtstag eine Karte gebastelt hat, gibt diese ihr das Geschenk zurück. Das könne sie besser, lautete die Begründung. Sie selbst sei schließlich auch so erzogen worden, verteidigt Amy Chua sich, und der Erfolg spreche für sich: Sie ist die Älteste von vier Töchtern, die alle an IvyLeague-Universitäten aufgenommen wurden. Bis auf Cynthia, sie hat das Downsyndrom - und bei den Paralympics zwei Goldmedaillen erschwommen.

Ich habe keine Zeit, Spaß zu haben

Wenn amerikanische Mummys jubeln, weil ihre Sprösslinge dreißig Minuten Klavier üben, so ist bei der chinesischen Mutter die erste Stunde der leichte Teil. Hart wird es in der zweiten und dritten Stunde, die täglich geübt werden. Klappt es trotzdem nicht, beschimpft die Mutter ihre Kleinen schon einmal als „Müll“ und verbietet ihnen, etwas zu trinken oder auf die Toilette zu gehen. Und es geht noch schlimmer: „Ich zähle jetzt bis drei, dann erwarte ich Musikalität. Wenn das beim nächsten Mal nicht PERFEKT ist, NEHME ICH DIR SÄMTLICHE STOFFTIERE WEG UND VERBRENNE SIE.“

Etwas macht eben erst Freude, wenn man es richtig beherrscht. Und deshalb muss man üben, vor allem am Anfang, woran die meisten westlichen Eltern, so Chua, scheiterten. „Ich bin Chinesin, ich habe keine Zeit, Spaß zu haben“, erklärt eine Chua-Tocher einmal einem verdutzten Schulfreund. Das konfuzianische Erbe, wonach alle Kinder gleich zur Welt kommen und erst durch Bildung sich die Unterschiede herausbilden, ist der Antrieb für die große Wissbegierde der Asiaten. Während andere Minderheiten in Amerika noch für Quoten an den Universitäten kämpfen, haben die Chinesen die Eliteuniversitäten längst überrollt.

Ihre ausländischen Freunde erkannten sich oft genug im Buch wieder, Amy Chuas amerikanische Freunde hingegen reagierten schockiert. Dabei hat die Autorin, indem sie sich entblößt und der Gefahr ausgesetzt hat, kritisiert zu werden, etwas zutiefst Westliches, ja Amerikanisches getan: Eine Chinesin käme wohl nicht auf die Idee, ihr Innerstes auf diese Weise zu offenbaren. Ihre Mutter hatte gewarnt: Schreib es nicht, doch Amy Chua gehorchte nicht.

Die Methode geht zu fünfzig Prozent auf

Die chinesische Rechnung mit der älteren Tochter Sophia geht tatsächlich auf, die schon mit vierzehn Jahren als Pianistin in der Carnegie Hall auftritt. Den Kampf gegen die Jüngere hingegen verliert die ehrgeizige Mutter. Nach Jahren der Qual an der Geige begehrt Louise bei einem Besuch in Moskau plötzlich auf: „Ich bin nicht, was du willst“, schreit sie ihre Mutter an: „Ich bin keine Chinesin! Und ich will auch keine Chinesin sein. Ich hasse die Violine. Ich hasse mein Leben. Ich hasse dich!“ Da, endlich, hisst Amy die weiße Flagge und erlaubte der Tochter, statt Geige Tennis zu spielen - eine Niederlage zweifellos, über die sie als Mutter nicht hinwegkommt.

Es ist dieser über Jahre schwelende Konflikt, der Psychokrieg zwischen einer chinesischen Mutter und ihrer amerikanischen Tochter, um den dieser verstörende Bericht wieder und wieder kreist. Er fängt an als Pamphlet für eine rigide Erziehungsmethode, die bei der ersten Tochter ja auch funktioniert. Doch nach der Hälfte des Buches beginnt Amy Chuas Welt zu erodieren, bis sie vollkommen in sich zusammenstürzt. Ihre Methode ist keine Erfolgsgarantie, sondern sie geht zu fünfzig Prozent auf - wie beim Roulette. Am Ende ihres Buches hat Amy Chua jede Sympathie beim Leser verspielt. Was bleibt, ist Mitleid für eine Mutter, die bereit ist, jeden Preis für das Fortkommen ihrer Kinder zu zahlen. So findet man vielleicht Erfolg. Aber nicht sein Glück.

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