Taubblinde in Deutschland : Es liegt keine Problemanzeige vor
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Valentin Aichele, Anfang vierzig, ist ein ambitionierter Mann. Als der Name Irmgard Reichstein fällt, kräuselt sich seine Stirn. Über die Situation Taubblinder in Deutschland sagt er: „Taubblinde Menschen sind weitaus stärker von Benachteiligungen betroffen als andere Menschen mit Behinderungen.“ Man könnte meinen, diese Feststellung hätte Konsequenzen. Hatte sie auch: Das Institut gab eine Pressemeldung heraus mit der Empfehlung, Tbl als Merkzeichen einzuführen, die sich auch im Aktionsplan der Regierung findet. Es gab eine wissenschaftliche Untersuchung der Lebenslage Taubblinder in Auftrag, und vor einiger Zeit hat sich Aichele mit Taubblinden zusammengesetzt und die Problemlage erörtert. Er führt informelle Gespräche. Valentin Aichele findet, das ist eine ganze Menge.
Aichele ist ein winziges Rädchen im riesigen System. Er hat keine weitreichenden Befugnisse und wenig Geld zur Verfügung. Er würde gern mehr bewegen, aber ihm sind die Hände gebunden. Die Strukturen definieren seinen Aktionsradius, und an den Strukturen kann Aichele nichts ändern.
Institutionelle Lücken
Um den Fall R. in Bethel wird sich das Institut für Menschenrechte nicht kümmern. „Wir haben keine staatlichen Befugnisse, eine konkrete Menschenrechtsverletzung festzustellen“, gibt Aichele an. „Unser Fokus ist nicht der Einzelfall.“ Bei gravierenden Fällen könne man zwar eine Ausnahme machen, aber dafür fehlten die Kapazitäten. Er fragt: „Wissen Sie überhaupt, wie viele Leute hier arbeiten?“ Da seien nur er, zwei wissenschaftliche Mitarbeiter und eine Sekretärin.
„Monitoring“ kommt von „to monitor“, was so viel bedeutet wie beobachten, kontrollieren. Aber wie soll die „Monitoring-Stelle“ kontrollieren, ob die Bundesregierung die UN-Behindertenrechtskonvention umsetzt, wenn sie jene Fälle, in denen Rechte von Menschen mit Behinderungen verletzt werden, gar nicht benennen darf?
Egal, an wen man sich wendet, niemand fühlt sich richtig zuständig, alle schieben die Verantwortung von sich: der Regionalleiter in Bethel, der Behindertenbeauftragte von Nordrhein-Westfalen, der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, der Leiter der Monitoring-Stelle des Instituts für Menschenrechte. Wenn selbst dieses Institut nicht befugt ist, Menschenrechtsverletzungen festzustellen, fragt man sich, wer ist es dann? Aichele hat darauf keine Antwort. Offenbar, sagt er, gebe es eine „institutionelle Lücke“.
Herr R. ist in diese institutionelle Lücke gefallen. Er ist ein Kollateralschaden, ein Fehler im System, der nicht sein darf. Es hat fünfzig Jahre gedauert, bis jemand kam, der handelte. Herr R. ist in dieser Woche ins Taubblindenwerk Hannover umgezogen.
Taubblinde
Taubblindheit ist in Deutschland nicht als spezifische Behinderung anerkannt. Es ist nicht vorgesehen, dass jemand gleichzeitig taub ist und blind.
In Deutschland sind laut Schätzung des „Gemeinsamen Fachausschusses hörsehbehindert/taubblind“ vier- bis sechstausend Menschen von Taubblindheit betroffen. Demgegenüber stehen weniger als dreihundert spezielle Heimplätze und hundert geschulte Taubblindeassistenten. Als Berufsbild existiert Taubblindenassistent nicht. Eine doppelte Sinnesbehinderung ist hierzulande nicht als spezifische Behinderung anerkannt, weshalb Taubblinde kein eigenes Merkzeichen haben. Im Schwerbehindertenausweis sind die Abkürzungen Gl für gehörlos und Bl für blind vermerkt.
Im Gegensatz zu Deutschland hat das Europäische Parlament Taubblindheit 2004 als Behinderung eigener Art anerkannt. Es forderte „die Organe der EU sowie die Mitgliedstaaten auf, die Rechte der Hör- und Sehbehinderten anzuerkennen und ihnen Geltung zu verschaffen“. Zum Beispiel in Finnland oder Norwegen gibt es deshalb einen am Einzelfall orientierten Anspruch auf persönliche Assistenz und Dolmetscherleistungen.
Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass Taubblinde am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und die UN-Konvention über die Rechte von Behinderten, die seit 2009 auch für Deutschland verbindlich ist, eingehalten wird.