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Supermarkt-Simulation : Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein!

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Hier lernen Langzeitarbeitslose mehr als der Markt von ihnen verlangt. Trotzdem fassen nur die wenigsten in der Wirklichkeit Fuß

Hier lernen Langzeitarbeitslose mehr als der Markt von ihnen verlangt. Trotzdem fassen nur die wenigsten in der Wirklichkeit Fuß Bild: Henning Bode

Im Hartz-IV-Supermarkt in Steilshoop bereitet die Hamburger Arbeitsagentur Langzeitarbeitslose auf das wahre Leben vor. Sie lernen zu organisieren, zu verwalten und zu verkaufen. Vorbereitung auf einen Job, den es für viele nie geben wird.

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          Wer das wahre Leben besichtigen will, muss nach Hamburg-Steilshoop kommen. Die Biker-Kneipe an der S-Bahn verkauft noch immer WM-Wurst, zwei Straßen weiter beginnt die Hochhaussiedlung mit ihren gestapelten Betonbalkonen. Zwischen „Auto Teile Unger“ und dem Hamburger Teppichdiscount hat die Hamburger Arbeitsagentur bauen lassen, was sie das „Real Life“ nennt: einen Supermarkt mit Lager, Verwaltung und fünf Gabelstaplern. In staatlichem Auftrag bringt das TÜV-Nord-Schulungszentrum hier Langzeitarbeitslosen bei, wie Arbeiten im Einzelhandel funktioniert. Abwechselnd spielen sie Kunden, Logistiker, Kassierer.

          Hier können sie einkaufen, wonach sie sonst selten im Supermarkt greifen: Barilla-Nudeln, einen Grand Vin de Bordeaux oder Whiskas Royal. Doch nicht alles fühlt sich echt an. Die Eier sind aus Plastik, der Käse sieht aus wie ein Stück Schwimmflügel, Obst und Gemüse gibt es nur auf Papier. Der Markt ist eine Simulation, die Währung Spielgeld. Nach dem Bezahlen wandern die Waren ins Lager und von dort zurück in den Markt. Ein geschlossenes kapitalistisches System auf zweitausend Quadratmetern.

          Die Arbeitslosen sollen sich an normale Arbeitszeiten gewöhnen

          Donnerstags morgens um neun ist alles ruhig. Zwischen den Stellwänden im „Verwaltungstrakt“ sitzen Frauen auf ergonomischen Stühlen und starren auf Monitore. Manchmal tippen sie etwas, drucken es aus und bringen es in die Dekoabteilung. Dort bleibt es liegen. „Die Vollzeit-Beschäftigten haben Spätschicht“, sagt die Pressefrau. Die Arbeitslosen sollen sich an normale Arbeitszeiten gewöhnen. Morgens aufstehen, pünktlich die Stechuhr bedienen und nicht zu lange Mittagspause machen. 98 Hartz-IV-Empfänger hat die Hamburger Arbeitsagentur aktuell dem „Real Life Training“ in Steilshoop zugewiesen. Wer den vollen ALG-II-Satz behalten will, muss erscheinen. Sechs bis neun Monate lang, vierzig Stunden die Woche, auch samstags.

          Steilshooper Szenerie
          Steilshooper Szenerie : Bild: Henning Bode

          Gegen zwölf ist Betrieb im Laden. Kunden legen Waren aufs Band, Verkäuferinnen stellen Dosen ins Regal, die Dekoabteilung arrangiert auf dem Saisontisch Deos. Eine Gruppe aus dem „Real Life Einkauf“ hat recherchiert, wie viel die Flasche „Grappa Tre Soli Tre“ von 1999 kostet, die der Chef spendiert hat, als sie leer war. 76 Euro steht jetzt auf dem Preisschild. „Wir simulieren hier sehr detailliert und umfassend das wirkliche Leben“, sagt die Projektleiterin Ulrike Kögler, „die Teilnehmer können hier von der Pieke auf erkennen, wie ein Supermarkt, der Warenkreislauf, die Preisgestaltung und Werbung funktionieren. Sie sind dann bestens auf das echte Leben vorbereitet. Wir bringen ihnen mehr bei, als später am Markt gefragt ist.“

          Hauptziel ist nicht die Vermittlung

          Tatsächlich ist am Markt etwas ganz anderes gefragt. Ungelernte Helfer werden kaum noch eingestellt. Von den gut dreihundert Teilnehmern, die das „Real Life Training“ seit Oktober 2009 durchlaufen haben, konnten nur drei eine Anstellung als Lageristen finden. In diesem Job hatten sie auch schon vorher gearbeitet. Ob sie heute noch beschäftigt sind, sagt Kügler nicht. Das Hauptziel sei nicht die Vermittlung. Schließlich laufe das „Real Life Training“ bei der Arbeitsagentur offiziell als „Aktivierungs-Center“.

          Wie kommt es, dass der Staat manche Menschen weder vermitteln noch qualifizieren kann, sondern aktivieren muss? Mehr, als dass die meisten Teilnehmer keinen Schulabschluss haben und oft schon seit acht Jahren oder länger arbeitslos sind, wird nicht verraten. „Wir müssen da auch an die Teilnehmer denken“, sagt die zuständige Pressefrau, „wer liest schon gern über sich in der Zeitung, dass er Teil eines Projektes ist, in dem, überspitzt gesagt, nur Trinker und Psychowracks sitzen.“

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