Shakespeare-Forschung : Auf Fischfang in der See der Sorgen
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Der Dichter und seine Schreiber: Wieder einmal geht es um Shakespeares Originalität. Bild: dpa
Kriminalistische Methoden haben in der Shakespeare-Forschung Tradition. Wie aussagekräftig ist der Quellenfund aus dem 16. Jahrhundert, der nun als Sensation ausgegeben wird?
Manchmal fühlt man sich derart bedrängt, dass man kaum mehr in Worte fassen kann, was einen plagt. Was soll man da sagen? Wo eine passende Formel finden, die das Problem auf den Punkt bringt? Wie wäre es mit „eine See von Plagen“? Klingt hinlänglich stark und überwältigend, aber hat man das nicht irgendwo schon mal gehört? Und taugt es daher noch, unsere akute, einzigartige Bedrängnis zu bezeichnen?
Auf dem Höhepunkt seiner Tragödie, als der bedrängte Held über den Selbstmord nachdenkt, legt Shakespeare seinem Hamlet diese Formulierung in den Mund. In seinem berühmtesten Monolog markiert „a sea of troubles“ den vorläufigen Tiefpunkt der Verzweiflung und zugleich einen Höhepunkt der Formulierungskunst eines Dramatikers, der noch für die entlegensten Konstellationen – ein strahlender Thronfolger wird durch seinen Onkel von der Krone ferngehalten, vom Geist seines Vaters dafür heimgesucht und unternimmt dennoch lange nichts, um diese unhaltbare Lage zu verbessern – immer einprägsame Worte findet. Und das genau ist hier die Frage: Wo findet der Autor sie bloß?
Buchstäblich alles benutzt
Shakespeare hat sich überhaupt kaum etwas ausgedacht; „er fand viel lieber, als daß er erfand“, stellte bereits Thomas Mann fest (in seinem Essay „Bilse und ich“ von 1906), das heißt, Shakespeare nahm, was die frühneuzeitliche Textkultur bereitstellte, und nutzte buchstäblich alles, was er irgendwo auflesen konnte. Weshalb seither die Philologen auf die Suche gehen, um so viel wie irgend möglich davon aufzuspüren.
Vor neun Jahren beispielsweise erschien in der Zeitschrift „Notes and Queries“, die solchen Spurenlesern und Trophäenjägern ein anerkanntes Forum bietet, ein kurzer Artikel, der nichts weniger als die Quelle für Hamlets zentralen Monolog aufzeigen wollte. Die Formulierung „sea of troubles“, so erfährt man hier, finde sich bereits in „The diall of princes“, einem didaktischen Roman über Marc Aurel, den ein spanischer Franziskaner namens Antonio de Guevara 1529 zur moralischen Anleitung für Kaiser Karl V. verfasst und den ein Übersetzer namens Thomas North 1557 (das sind rund 45 Jahre, bevor Shakespeare seinen „Hamlet“ schrieb) auf Englisch in den Druck gegeben hatte. North ist bis heute vor allem als einflussreicher Übersetzer von Plutarch bekannt, dessen Parallelbiographien großer Männer wie Julius Cäsar, Mark Anton oder Coriolan von Shakespeare bei der Abfassung der Römerdramen ausgiebig genutzt und teils wörtlich übernommen wurden. Daher erscheint es nicht ganz unplausibel, dass auch ein eher obskurer Text wie Norths Guevara-Übersetzung eine Rolle als sprachliches Formulierungsreservoir für Shakespeare gespielt haben soll.
Der Autor des Artikels, ein Amerikaner namens Dennis McCarthy, den die „New York Times“ einen unabhängigen Wissenschaftler nennt, war im selben Jahr durch eine Buchpublikation zu einem gänzlich anderen Gebiet, nämlich der Pflanzen- und Tiergeographie, populär geworden. Hier wie auch bei seinen Beiträgen zur Shakespeare-Forschung stützt er sich ganz auf statistische Auswertungsmethoden, wie sie zur Plagiatserkennung eingesetzt werden und die er offenbar beherrscht, um signifikante Merkmalshäufungen festzustellen und einander zuzuordnen. So identifizierte er in „The diall of princes“ neben „sea of troubles“ auch die Wörter „sleep“, „perchance“ und „dream“ in bedeutsamer Nähe zueinander, die alle auch in Hamlets Monolog vorkommen. So etwas bezeichnet er als „fingerprint grouping“, also als sprachlich-stilistischen Fingerabdruck, der klar beweise, dass hier direkter Einfluss vorliege: textuelle Täterschaft.
Es dauerte nicht lange, bis er mit dieser Methode zu einer weiteren Identifizierung, ja Täterüberführung gelangen sollte. 2011 erklärte McCarthy in „North of Shakespeare“, warum es zweifelsfrei erwiesen sei, Thomas North sei der wahre Verfasser jener Stücke, die wir unter Shakespeares Namen kennen; der Theatermacher William Shakespeare selbst komme allenfalls als Überarbeiter von Texten in Betracht, die er aufgefunden und geschickt vermarktet habe. Die vollständige kriminalistische Beweiskette für diesen Tatbestand wurde seinerzeit nur angedeutet – „North of Shakespeare“ blieb mit 28 Seiten ein Fragment – und für eine aufklärende Monographie angekündigt, die bislang nicht erschienen ist.