Selbstverbrennungen in Tibet : Tapferkeit, aber mit welchem Effekt?
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Die Kampflinie in Tibet verläuft zwischen Mönchen und chinesischer Armee: Ein Soldat der Volksbefreiungsarmee überwacht eine Prozession Bild: Getty Images
Sie sind ein Mittel des tibetischen Protests gegen Chinas Herrschaft. Doch die Haltung zu den Selbstverbrennungen scheint sich zu wandeln. Werden die Appelle zur Mäßigung gehört?
Von einer der mittlerweile 28 Selbstverbrennungen tibetischer Mönche und Laien im Verlauf des letzten Jahres wird erzählt, dass sofort mehrere hundert Menschen den Leichnam umringten, um ihn vor dem Zugriff der chinesischen Polizei zu bewahren. Experten für tibetischen Buddhismus erklären, dass der Körper insbesondere nach einem plötzlichen Tod Ruhe braucht und dass besondere Rituale ausgeführt werden sollten, damit das Bewusstsein eine glückliche Wiedergeburt erleben kann. „Opfer von Mord, Selbstmord, Katastrophen oder Krieg“, lehrt Sogyal Rinpoche, „können leicht in die Falle ihres Leidens und ihrer Angst gehen oder durch ihre akute Todeserfahrung gefangen genommen werden, so dass sie im Prozess der Wiedergeburt nicht vorankommen.“
Anders als bei den Ausschreitungen in Lhasa, bei denen 2008 han-chinesische Zivilisten getötet wurden, sind die Proteste gegen das chinesische Regime diesmal deutlich in religiöse Vorstellungen und Zeremonien eingebunden. Das wirft für die buddhistischen Gemeinden, in China ebenso wie im Exil, neben politischen auch grundstürzende metaphysische Fragen auf. Seit dem 16. März 2011, als sich der zwanzig Jahre alte Mönch Lobsang Phuntsok in Aba (Provinz Sichuan) im Gedenken an die tibetischen Unruhen von 2008 anzündete, ist die Kette der Selbstverbrennungen nicht abgerissen. Allein diese Tatsache - weiter gehende unabhängige Berichte sind wegen der Abriegelung für auswärtige Beobachter nicht zu bekommen - bezeugt, in welche Erregung die Suizide die Tibeter versetzen - der Nichtzurkenntnisnahme durch die chinesischen Medien und der Ratlosigkeit der Weltöffentlichkeit zum Trotz. Aber gleichzeitig ist die Haltung vieler Tibeter in sich gespalten.
Den selbstzerstörerischen Protest beenden
Der Dalai Lama, dem die chinesische Regierung vorwirft, die Proteste zu steuern und aus dem Buddhismus auf diese Weise „eine Religion der Selbstverbrennung“ zu machen, hat den Toten seinen Respekt gezollt, aber er hat nicht zu weiteren solcher Taten ermutigt: „Da ist Tapferkeit, sehr große Tapferkeit“, sagte er der BBC, „aber mit welchem Effekt?“
Die in Peking lebende tibetische Lyrikerin Woeser, die wie keine andere in der chinesischen Öffentlichkeit für die tibetische Sache eintritt und dafür zurzeit unter Hausarrest steht, hat jetzt zu einem Ende der Selbstverbrennungen aufgerufen. „Lebendig zu bleiben erlaubt uns, Stärke zu sammeln, so wie die Wassertropfen sich zusammen zu einem großen Meer sammeln“, schrieb sie in ihrem Appell. „Es hängt von den vielen Tausenden lebenden Tibetern ab, den Geist und das Blut unserer Nation weiterzugeben.“ Sie beschwor „die Mönche, die Ältesten, die Intellektuellen und die Massen“, ihren Einfluss geltend zu machen, um den selbstzerstörerischen Protest zu beenden.
Wenn das Bewusstsein keine andere Wahl hat
Diese Stellungnahme ist umso bemerkenswerter, als die Dichterin die Selbstverbrennungen zuvor mit Sympathie begleitet hatte. Noch im Oktober hatte sie sich dagegen gewendet, sie als „Selbstmorde“ zu qualifizieren, und sich dabei auf den vietnamesischen Mönch Thich Quang Duc berufen, der sich 1963 aus Protest gegen die Regierung in Saigon angezündet hatte. Woeser zitierte einen anderen Mönch, der diese Tat damals als „etwas Konstruktives“ bezeichnet hatte, als „einen Akt des Leidens und sogar des Sterbens für das Volk“.
Diese Unterscheidung ist wichtig, da die buddhistischen Lehren die Bewertung der Selbsttötung von der geistigen Haltung der betreffenden Person abhängig machen. Den gewöhnlichen Selbstmord lehnen sie ab, da der Kreislauf des Leidens dadurch nicht durchbrochen, sondern im Gegenteil noch unausweichlicher werde. „Wenn ein Mensch Selbstmord begeht“, sagte der tibetische Mönch Dilgo Khyentse Rinpoche, „hat das Bewusstsein keine andere Wahl, als dem negativen Karma zu folgen.“
Auf der anderen Seite berichten einige Sutren von Menschen, die sich im Zustand mindestens temporärer Erleuchtung, also frei von Ärger, Hass und Furcht, umbrachten und dadurch eine höhere Wiedergeburt erreicht hätten. Eine Legende erzählt sogar von Buddha, dass er sich in einem früheren Leben entleibt habe, damit eine sterbende Tigerin ihre Jungen mit seinem Fleisch nähren konnte.
Die Tibeter können keine Hilfe erwarten
Viele Tibeter erachten die Selbstverbrennungen offenbar als Zeugnisse eines solchen Opfermuts und nicht als Verzweiflungstaten. Doch die einzige Reaktion des chinesischen Staats, für den die buddhistische Innenperspektive keine Rolle spielt, ist bislang vermehrte Kontrolle und Repression. Der Tibet-Forscher Robert Barnett von der New Yorker Columbia University meint, den pragmatisch orientierten Bewohnern des tibetischen Hochlands würde wahrscheinlich ein Zeichen des guten Willens ausreichen, um ihre Situation nicht mehr als so unterdrückerisch zu erleben wie jetzt - wenn also China zum Beispiel auf die politische Umerziehung in den Klöstern und die Dämonisierung des Dalai Lama verzichten würde.
Doch ein solches Entgegenkommen ist nicht in Sicht. Von der han-chinesischen Öffentlichkeit können die Tibeter keine Unterstützung erwarten. Zwar fühlen sich immer mehr junge Leute in Städten wie Peking und Schanghai von tibetischer Spiritualität angezogen, doch für das, was ihre Regierung als „Separatismus“ definiert, haben sie kein Verständnis. Der Dalai Lama solle sich doch selbst verbrennen, tönt es aus den nationalistischen Sphären des Internets. Seit Woesers Aufruf zum Einhalten haben sich schon wieder zwei Mönche angezündet; einer von ihnen ist gestorben. Es ist eine Tragödie.