Nevin Aladağ in München : Schläft ein Lied in allen Stühlen
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Hier spielt die Stadt den Blues auf der Mundharmonika: Nevin Aladağs „Voice Over“ (Videostill-Ausschnitt) von 2006. Bild: Nevin Aladağ/VG Bild-Kunst, Bonn 2021
Es tönen die Möbel und porträtieren die Räume: Die Künstlerin Nevin Aladağ bringt die Villa Stück in München zum Klingen.
Warum singt der hier? Das ist doch ein Museum!“ So hört man eine Elfjährige den Vater fragen. Nun passt aber weder die Deutschtürkin Nevin Aladağ mit ihrem Video „Voice over“ des lauthals singenden Jungen in herkömmliche Sparten der Kunst noch der Ort der ersten Retrospektive, die der Neunundvierzigjährigen gewidmet ist: Man wandelt durch die steininkrustierten und goldmosaizierten Gesamtkunstwerksräume der Villa Stuck in München.
Für Aladağ lässt sich kaum ein besserer Rahmen denken als die 1897 nach Plänen des Malerfürsten Franz von Stuck in der bayerischen Kunstmetropole errichtete Villa. Von Beginn an bewegte sich die Meisterschülerin Olaf Metzels, auch er ein Vielseitigkeitsreiter der Bildhauerei, zwischen den Medien Kunst und Musik. Seit den Neunzigern baut sie klingende Möbel und Gegenstände, mit denen sie ihre Sozialisation in einer kurdischen Familie in die Jetztzeit transferiert. Gesang und Musik gehören dort unabdingbar zum sozialen Gefüge; vor und nach dem Essen, währenddessen sowie nach dem anschließenden Beisammensein wird musiziert und durch Klatschen rhythmisch begleitet.
Mit ihrem besonderen Gespür für die Rhythmisierung von Skulpturen fiel Aladağ in der Klasse Metzel früh auf; im Grunde nur konsequent übertrug sie diese Idee bald schon auf vorgefundene Gegenstände und Möbelstücke. Wie klingt ein Stuhl? Was könnte sie einem Beistelltisch an Geräuschen und damit Geschichten entlocken? Hier trifft sich der Glaube an die Belebtheit aller Dinge aus Tausendundeiner Nacht (fliegende Teppiche, wunschgewährende Öllampen) mit der grundsätzlichen Beseeltheit der Natur in der Romantik: Es schläft ein Lied in jedem Baum.
So tritt man nun in das opulente Musikzimmer des Malerfürsten Franz von Stuck, an dessen Wänden die gipserne Totenmaske Beethovens ebenso prangen wie die Namen von Bach, Mozart oder Haydn, und entdeckt erst beim zweiten Hinsehen die „Zutaten“ Aladağs in der Tiefe des Raums: Dort stehen diverse harfenbespannte Möbel wie der tönende Stuhl aus dem einstigen „Istanbul Music Room“ von 2014, der als organisch geschwungenes Bugholzgebilde ohnehin schon eine Art Menschengestalt besitzt; um ihn zum Tönen zu bringen, müsste man nur noch einen Jacke über seine saitenbespannte Lehne werfen. Auch Aladağs „Athens Chair“ daneben, den sie für die letzte Documenta 2017 in Athen als Komplementär zu Kassel baute, bleibt nicht stumm. Die nach Designikonen wie dem „Barcelona Chair“ Mies van der Rohes klingende Bezeichnung „Athens Chair“ im Ohr, kann der Betrachter fast nicht anders, als sich vorzustellen, wie wohl das Hineinfläzen in den mit Harfensaiten aufgetakelten Stuhl-Hybrid klingen würde. Aber wieso hat die Künstlerin ihre Ausstellung „The Sound of Spaces“ genannt, wenn doch wie stets im Museum die Musik-Möbel nicht berührt werden dürfen?
Die Klangobjekte werden in regelmäßigen Performances durchaus bespielt. Die subtilere Erklärung für den Titel „Der Klang von Räumen“ aber folgt im oberen Saal, dem Heiligtum der Villa Stuck. Hier hängen nicht nur etliche Gemälde ihres einstmaligen Besitzers wie der kleine Satyrjunge, der auf der Syrinx spielt, während sich ein älterer Satyr daneben gequält die Ohren zuhält; sämtliche Bilder in diesem Raum beziehen sich auf griechisch-römische oder biblische Mythologie – und die ist inwendig voller Musik.
Der Musenführer Apoll spielt die Lyra, bei der früh schon ein Schildkrötenpanzer mit Saiten bespannt wurde. Der römische Dichter Ovid schützt in zahlreichen seiner „Metamorphosen“ die Nymphen vor dem Zugriff von Satyrn, indem sie in Schilfrohr und in eine Panflöte oder in Bäume verwandelt werden und dann auf ewig ihr Trauerweidenlied im Wind singen. Aladağ ihrerseits hält in „Voice over“ mit dem musizierenden Jungen im Nebenraum eine Mundharmonika aus dem Autofenster und lässt durch den Fahrtwind die Natur tönen, genauso wie Regentropfen auf den ins Freie gestellten Snare-Drums und Schlagzeug-Becken eine eigentümlich menschliche Rhythmik erzeugen.
Den Grundton der Räume, eine Art Porträt, gibt also die klangliche Durchdringung der antiken Mythologie vor, und es ist kaum zufällig, dass Franz von Stuck auf seinen mächtigen Künstleraltar aus Schmucksteinen in diesem Saal insgesamt sechs Nautilusmuscheln drapiert hat. Diese besonders stark schimmernde Spiralmuschel ist nicht nur eine perfekt von der Natur konstruierte Kunstform; ebenfalls schon früh in der Menschheitsgeschichte wurden auch Muschelhörner gespielt und in Mythenbildern verewigt.
Erzengel mit knisternden Flammenschwertern und Muschelhörner
Ebenso subtil wie funkelnd ist in der Rauchernische dieses Altarraums unter den gestrengen Augen des die Paradiespforte verteidigenden Erzengels, dessen mannshohes Flammenschwert unüberhörbar aus dem Bild heraus lodert und knistert, die Gegenüberstellung aus einer gemalten Muschel von Stucks und Aladağs Beistelltisch-Harfe aus Athen: Die Muschel offenbart ihr Inneres aus Perlmutt, das in allen Farben des Regenbogens schimmert, und aus dem schwarzen Holz des orientalischen Musik-Möbels schillern die Perlmutt-Intarsien synästhetisch um die Wette mit den fremden Klängen, die mutmaßlich aus ihm dringen würden. Aladağ bespielt somit das gesamte Haus mit all seinen künstlerisch meist lauten, weil überinstrumentierten Räumen wie eine Teufelsharfe. Bei ihr wird die Stuck-Villa zu einer neuen Großpartitur. Und weil die meisten der tönenden Exponate aus ehemaligen „Music Rooms“ stammen, in denen die soziale Interaktion der auf den Möbeln Musizierenden mit den Besuchern entscheidend war, wirkt das jetzige Neuarrangement in der Stuck-Villa wie eine jede historische Partitur – alle Betrachter werden sie je für sich in Phantasie und Koloratur ganz neu aufführen.
Freilich ist die Idee, Musik und bildende Kunst zusammenzuführen, nicht neu. Will man sie nicht wie Franz von Stuck aus der Antike wiedererwachsen lassen, stößt man spätestens in den Sechzigerjahren mit John Cage, Joseph Beuys, Stephan von Huene und Nam June Paik auf viele mit der Stille, mit Sauerkraut, Maschinen- Stepptänzern oder Videobildschirmen musizierende Künstler. Ubi Fluxus ibi motus: Wo „Fluxus“ als Künstlerbewegung auftrat, war wirklich alles in Bewegung und im Fluss, insbesondere die zuvor streng nach Reinheitsgebot getrennten Sphären von Klangkunst und Malrhythmik, was schon in der beginnenden Abstraktion bei Kandinsky und erst recht im Informel nicht mehr sinnvoll war.
So scheint Aladağs Video-Arbeit „Top View“, die im Vordergrund steppende Frauen zeigt, während dahinter die unterschiedlich stark eingedellten (und wie bei Carl Andre an die Wand gebrachten) Kupferplatten der Stepp-Aktion „Stiletto, Drunk in Love“ hängen, relativ direkt die ebenfalls „steppenden“ Tischtänzer Stephan von Huenes aufzugreifen und weiterzuführen. Während aber bei von Huene Automaten in schwarzen Hosen wie Büroangestellte steppten, ergeben sich bei Aladağ weit öfter surreale Wahlverwandtschaften, neue Bildinventionen aus Klang und Form, die sich unauslöschlich wie ein Ohrwurm irgendwo im Gehirn zwischen Gehörgang und Sehsinn einnisten.
Neben vielen weiteren phantasiebeflügelnden Gegenständen bilden die zweite Gesellschaftsmetapher, die Aladağ in Kunst umwandelt, die mal mehr, mal weniger sichtbaren Fäden, die Gemeinschaften zusammenhalten. Restsurreal bespannt sie etwa sieben der berühmten weißen Paulsen-Lampen mit einer Collage aus bunten Strumpfhosen und Reizwäsche, wodurch aus der bauhausartig-klassizistischen Leuchte sofort ein verspielt-orientalisches Flair strömt. Deutlich wird diese kulturelle Transformation durch Textilien auch in ihren Teppich-Mosaiken „Social Fabric“, wo sie etwa das soziale Gefüge der auf rasterförmigem Grundriss errichteten Stadt Mannheim durch ein Raster aus Orientteppichen geschnittener Quadrate nachbaute. Oder wenn sie in ihren „Rehearsals“ von 2012 Vorhänge aus schwarz-rot-blondem und andersfarbigem Kunsthaar an der Wand so aufzieht, dass sich Ponyfrisuren, Zöpfe und mutmaßliche Vokuhilas ergeben – und die Phantasie auch hier wieder den Rest übernimmt, indem sie die Gesichter darunter hinzudenkt. Wie fast immer gelingt Aladağ hier von Neuem das Kunststück, eigentlich kulturabhängige Metaphern durch klangliches und textiles Verweben miteinander allgemeinverständlich und anschaulich zu machen.
Nevin Aladağ. Sound of Spaces. In der Villa Stuck, München; bis zum 20. Februar 2022. Der Katalog kostet 44 Euro.