Integrationsdebatte : Was sagt Mehmet Scholl zu Sarrazin?
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Bayern Münchener Urgesteine: Gerd Müller und Mehmet Scholl auf der Trainerbank Bild: imago sportfotodienst
Die Antwort ist: nichts. Die meisten Deutschen mit türkischer Familiengeschichte beteiligen sich an der Integrationsdebatte nicht. Sie sind schon integriert, fühlen sich aber als Minderheit.
Als Schlüsselereignisse beschreibt die Kommunikationswissenschaft solche Ereignisse, die wegen spezieller Merkmale regelrechte Debattenwellen auslösen. Rast beispielsweise ein ICE mit voller Geschwindigkeit in eine von der Weide abgekommene Rinderherde, melden sich schlagartig die Sicherheitsexperten und Verkehrspolitiker, die Opferverbände und die Agrar-Lobby. Kommt es dann mal wieder zu einer eher unspektakulären Kollision zwischen einer Regionalbahn und einer einsamen Ziege, ist die nächste Hysterie programmiert, die sonst ohne das Schlüsselereignis ausgeblieben wäre. Die Öffentlichkeit hat sich dann nämlich schon warmgelaufen. Sie hat ihren feinmechanischen Blick geschult und sucht krampfhaft nach allem, was sich irgendwie in das Diskursmuster des Schlüsselereignisses pressen lässt.
Im Sommer 2010 kam es zu folgendem Schlüsselereignis: Ein misanthropischer Bundesbanker prallte mit seiner Dampflok in eine Herde von Einwanderern, weil er den Untergang des Abendlandes fürchtet. Danach gab es kein Halten mehr: Anhand der Thesen von Thilo Sarrazin diskutierten Demographen die Geburtenentwicklung und Biologen die Eugenik. Sozialexperten vermuteten die Probleme in einem vorgestrigen Bildungssystem, und die Islamkritiker bekamen ebenfalls ihr Futter. Richard David Precht sah in den Sarrazin-Sympathisanten die Brüder im Geiste der bürgerlichen Wut, wie sie rund um den Stuttgarter Hauptbahnhof zu beobachten ist. Sandra Maischberger zog gar die Hundert-Tage-Bilanz der Sarrazin-Debatte. Und der Dauerwahlkämpfer Horst Seehofer holte die eingestaubte Platte von der Leitkultur aus dem Mottenschrank. Wer auch immer was auch immer zu sagen hat: Das gesellschaftspolitische Auge blickte auf alles durch die sarrazinische Nickelbrille.
Der Abweichler und die Mitredner
„Deutschland schafft sich ab“ macht das, was populärwissenschaftliche Sachbücher eben so machen: Es reduziert Komplexität – mal mehr und mal weniger glücklich. Wie aber kommt es, dass die eher nüchterne Lektüre zum Schlüsselereignis avancierte? Da kommt die zweite kommunikationswissenschaftliche Theorie ins Spiel: die Theorie des Nachrichtenwerts. Je mehr dieser Nachrichtenwert ein Ereignis erfüllt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass darüber ein öffentlicher Diskurs geführt wird. In diesem Fall werden gleich drei der wichtigsten Kriterien der Nachrichtenlogik erfüllt. Erstens Personalisierung: Die Debatte ist fest verbunden mit der Person Thilo Sarrazin. Zweitens Konflikt: Eben diese Person stützt ihre Argumente auf ein Menschenbild, welches dem ihrer Partei diametral gegenüber steht. Drittens Prominenz: Dass das Ganze noch aus der Feder eines Vorstandes einer der glaubwürdigsten Institutionen der Bundesrepublik stammt, macht das Schlüsselereignis perfekt. Überall wurde diskutiert: Vom Boulevard bis zum Feuilleton, von der „Hürriyet“ bis zur „New York Times“, vom Plenarsaal bis zum Stammtisch.
Alle fühlten sich zum Mitreden berufen. Alle? Nicht alle! Es gibt ein gallisches Dorf, das die Ausnahme bildet. Es wird bewohnt von sogenannten Mehmet-Scholl-Türken. Diese sind meist junge Leute mit Migrationshintergrund, haben fast keinerlei Bezug zu ihrer ursprünglichen Herkunft und sprechen die Sprache, die ihr Name suggeriert, nur schlecht oder gar nicht. So wie Mehmet Scholl eben. Warum aber hört man von diesem Teil der Bevölkerung in dem ganzen Getöse um Integration eigentlich nichts? Warum sitzen sie nicht bei Anne Will auf dem Sofa?