Russlands neue Seele : Aufstand gegen die Modernisierung
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Moderne Flucht-Inseln inmitten der russischen Archaik: junge Menschen in St. Petersburg Bild: dapd
Die Annexion der Krim ist nur das Symptom für eine Krise, die das gesamte russische Selbstverständnis erschüttert. Was wir in Russland zurzeit erleben, ist ein beispielloser Wertewandel.
Ratlosigkeit ist das Hauptgefühl, das einen heute in Moskau trifft. Man sieht freundliche Menschen in einer reichen, entspannten Hauptstadt, die eine bevorstehende Invasion ins Nachbarland und eine bereits vollzogene Annexion besprechen, als sei es eine Hypothek für das Eigenheim. Auf Facebook liest man Berichte ukrainischer Freunde, auf Russisch, versteht sich, die jeden Tag einen russischen Einmarsch erwarten und Truppenbewegungen an den Grenzen nervös auswerten.
Auf der anderen Seite posten russische Freunde auf Facebook Fotos von Kätzchen, sie philosophieren über Geopolitik und historische Gerechtigkeit aus russischer Sicht (der zufolge die Ukraine kein Staat sein könne, die Krim immer schon russisch gewesen sei und, überhaupt, die Amerikaner an allem schuld sind). Kätzchen, Geopolitik, Frontberichte, die Modetrends dieses Frühlings, wir Russen sind stark und einsam, die Welt ist gegen uns, wieder Kätzchen – so sieht Facebook in Russland momentan aus. Immerhin gibt es das noch: Facebook in Russland.
Die Wiederentdeckung des imperialen Selbstbewusstseins
Die Annexion der Krim hat viele Beobachter schon deswegen stutzig gemacht, weil sich dahinter keine langfristige Strategie erkennen lässt. Man vermutet alles Mögliche: geopolitische Ambitionen, den Versuch Putins, Sewastopol als Basis seiner Schwarzmeerflotte um jeden Preis zu behalten, die Manifestation eines zurückgekehrten imperialistischen Denkens, historische Revanche oder gar Sowjetnostalgie. Skeptiker sahen sofort, dass all diese Gründe nicht entscheidend gewesen sein können.
Die Krim ist hochverschuldet, sie ist, was Wasser- und Stromversorgung anbetrifft, von der Ukraine abhängig. Dazu kommt, dass jede russische Militärbasis im Schwarzen Meer nur so lange einen militärischen Nutzen hat, wie das Nato-Mitglied Türkei den Bosporus nicht für Militärschiffe sperrt. Vor allem steht der symbolische Gewinn einer Annexion in keinem Verhältnis zu dem kolossalen wirtschaftlichen und politischen Verlust.
Eine der möglichen Erklärungen lautet, dass das Krim-Abenteuer vor allem eine innenpolitische Angelegenheit Russlands sei. Diese Annexion ist ein typischer Stellvertreter-Krieg, der angesichts der bevorstehenden Rezession zur Steigerung der Umfragewerte von Präsident Putin ausgelöst worden sei. Sanktionen seitens der Amerikaner und Europäer wurden von der Kreml-Leitung bereits dafür eingeplant, für die sich verschlechternde wirtschaftliche Lage der Russen verantwortlich gemacht zu werden. Tatsächlich, die Umfragewerte von Putin stiegen in den letzten zwei Wochen in Rekordhöhe. Die Russen schwelgen im wiederentdeckten imperialen Selbstbewusstsein, es sieht so aus, als hätte die Menschheit in den hundert Jahren seit 1914 nichts gelernt.
Komfort-Oasen inmitten der depressiven russischen Archaik
Baudrillard schrieb in „Transparenz des Bösen“, es werde bald keine Kriege mehr geben, wenn sie fürs Fernsehen nicht interessant seien. Während der Krim-Annexion entstanden perfekte Fernsehbilder einer wiedererstandenen imperialen Macht, mit Hightech-Soldaten ohne Hoheitszeichen und fahnenschwenkender Bevölkerung, wie geschaffen für die Zuschauer in Russland, wie auch schon die Olympischen Winterspiele im Fernsehen das perfekte Bild eines modernen, weltoffenen Russlands darstellten.
Der Kontrast beider Fernsehbilder manifestiert einen für Russland typischen postmodernen Eklektizismus. Das Archaische und das Moderne, das Imperium und die Avantgarde waren in der Kultur des Landes schon immer tief miteinander verflochten. Vielleicht war es das Gleichgewicht zwischen diesen beiden Wertesystemen, das die Spezifik des Landes ausgemacht, ihm Wohlstand und eine gewisse Ruhe geschenkt hat.
„Komfortzone“ ist der wichtigste Begriff, der das Leben in Russland beschreibt. In den Neunzigern fingen die Russen damit an, ihre Wohnungen vor der Straßenkriminalität durch massive Eisentüren zu schützen. Diese Komfortzone wurde langsam vom Privaten auf die Gemeinschaft ausgedehnt, es entstanden Oasen, Inseln der Gleichgesinnten, auf denen man mit klaren Regeln und westlichem Arbeitsethos zu agieren pflegte. Die Inseln schlossen sich zu einem Archipel zusammen, das Lebensniveau stieg, viele lernten, sich in kunstvoller Akrobatik von einer Insel zur anderen zu schwingen, ohne die allgemeine depressive russische Archaik zu bemerken. Die Moderne wurde für sie zum Leitbild, besonders während der Präsidentschaft von Dmitrij Medwedjew. Man sprach von Innovation und Modernisierung als Staatsstrategien.