Rodin-Ausstellung in Berlin : Letzter Auftritt für den Vogel der Seele
- -Aktualisiert am
Auguste Rodins Schaffen ist erfüllt von einem Genius, der seinesgleichen sucht. Die Alte Nationalgalerie Berlin feiert den legendären Bildhauer und gleichzeitig einen seiner prominenten Verehrer.
Der Titel der Skulptur ist ungewiss. Auguste Rodin, ihr Schöpfer, nannte sie gegenüber Rainer Maria Rilke, seinem zeitweiligen Sekretär, „L’inspiration qui se retire“: „Die zurückweichende Inspiration“. In der Rodin-Schau zur Weltausstellung des Jahres 1900 hieß sie dagegen „Le Héros“, „Der Held“. Hugo von Hofmannsthal, der im gleichen Jahr einen Bronzeabguss der Figurengruppe kaufte, gab ihr den Namen „Le penseur et le génie“, „Der Denker und der Genius“. Und in der Alten Nationalgalerie in Berlin, der das Werk seit gut fünfzig Jahren gehört, ist der Denker zum Menschen geworden und das Genie zum Besitz: „Der Mensch und sein Genius“.
Die Vielzahl möglicher Namen für eine Kleinbronze mit zwei Figuren ist charakteristisch für die Kunst Rodins, dessen hundertster Todestag im November 1917 die Nationalgalerie zu einer Kabinettausstellung inspiriert hat. Denn Rodins Naturalismus entzieht sich den Zuschreibungen der antiken Mythologie ebenso wie den symbolistischen Etiketten seiner Epoche. Rodins Werke verstörten die Zeitgenossen, weil sich das, was sie zeigten, nicht benennen, nur beschreiben ließ.
Sein „Balzac“ blieb trotz seines Ruhms ein Skandal, weil kein Lorbeerkranz, keine küssende Muse in der Skulptur darauf hinweist, dass der fette Mann im Morgenmantel ein Dichter ist. Die Berliner Rodin-Bronze machte es den Museumsleuten leichter, denn der kopflose Frauenkörper, der auf dem linken Arm der Männergestalt ruht, trägt unverkennbar Flügel. Und doch greift „der Mensch“ als Deutung zu weit, denn der Dargestellte muss bildender Künstler sein.
„Der Bildhauer und seine Muse“
In seinem Entwurf eines Denkmals für seinen Malerfreund Eugène Carrière, der als Leihgabe aus Paris gezeigt wird, hat Rodin die geflügelte Elfe zu einer Trostspenderin mit streichelnden Händen weiterentwickelt, aber auch hier sind die Arme und der mächtige Brustkorb des Mannes das Kraftzentrum der Doppelfigur. In der Bremer Bronzegruppe „Der Bildhauer und seine Muse“ schließlich ist der Gedanke der Skulptur zu Ende gedacht. Hier ringen der Künstler und sein Dämon atemlos miteinander wie verzweifelt Liebende. Wer sich in diesem Knäuel von Gliedern von wem befreien, wer wem Leben einhauchen will, spielt keine Rolle mehr, denn eine Trennung wäre für beide der Tod.
Die Bronze, um die sich die Berliner Ausstellung dreht, kam 1951 aus dem Nachlass des Schweizer Sammlers Werner Reinhart in den amerikanischen Kunsthandel und von dort ein Jahrzehnt später in den Bestand der Nationalgalerie. Reinhart hatte sie 1920 durch Vermittlung Rilkes von Hofmannsthal erworben, dessen Vermögen in der Existenzkrise Österreichs nach dem Ersten Weltkrieg zerschmolzen war. Zuvor hatte die Skulptur fast zwanzig Jahre lang auf Hofmannsthals Schreibtisch in seinem Schlösschen in Rodaun gestanden. Es war hier, wo der berühmte Chandos-Brief entstand, in dem der achtundzwanzigjährige Hofmannsthal durch den Mund eines Barockdichters sein modernes Unbehaustsein in der Sprache kundtut, das „Unbehagen, die Worte ,Geist‘, ,Seele‘ oder ,Körper‘ nur auszusprechen“: „Die abstrakten Worte ... zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.“
Ein Gefühl von Unbehagen erfüllt den Künstler
Dieses Unbehagen könnte Hofmannsthal in Rodins Kunst wiedererkannt haben. Wo der Dichter aus Wien an toten Wörtern würgte, rang der französische Bildhauer mit den Konventionen seines Metiers. „Alle die herkömmlichen Begriffe der Plastik“ seien für ihn wertlos geworden, erkannte der hellsichtige Rilke schon 1903 in seiner Rodin-Monographie: „Es gab weder Pose, noch Gruppe, noch Komposition.“ Als Hofmannsthal in Rodins Atelier kam, lag die öffentliche Verhöhnung der Balzac-Figur erst zwei Jahre zurück. Auch Rodins Hang zum Fragmentarischen, zum Nonfinito war dem Österreicher aus der eigenen poetischen Produktion vertraut. Er sitze „zwischen Trümmern, halb festgehaltenen Gestalten, Details wie Rodin zwischen Gypshänden, Füßen und abgebrochenen Flügeln“, schrieb er aus Paris in einem Brief.
Der Genius, der sich bei Rodin seinem Besitzer entwindet, büßte um 1900 seine Verlässlichkeit ein. Ohne den klassischen Formenkanon hing die Inspiration des Künstlers buchstäblich in der Luft. Die Drohung des Scheiterns wurde zum ständigen Begleiter der ästhetischen Moderne. Als Rilke Hofmannsthal aus der Klemme half, indem er seinen Mäzen Werner Reinhart zum Kauf der Rodin-Bronze überredete, steckte er in der schlimmsten Schaffenskrise seines Lebens. Sie endete erst zwei Jahre später mit dem Abschluss der „Duineser Elegien“. Deren Zentralfigur ist der Engel, ein „Vogel der Seele“, dessen Nähe für die Lebenden „schrecklich“ ist, weil sie „noch am Sichtbaren hängen“. Wäre Rodin nicht seit fünf Jahren tot gewesen, er hätte diese Erscheinung festhalten können: den Genius als Vernichter.
Neben Autographen von Rilke und Hofmannsthal, Zeichnungen, Fotos und Plakaten zeigt die Berliner Ausstellung auch vier Grafiken Max Klingers, in denen man sehen kann, was Rodin mit seinem Ausbruch aus der klassischen Bilderwelt hinter sich ließ. Klingers Phantasie steckt mit ihren brütenden Künstlerköpfen, Pin-up-Engeln und Harfe zupfenden Walküren noch ganz im Triebstau der Spätromantik. Der „Denker“, das Frühwerk „Das eherne Zeitalter“ und die sechs anderen Plastiken Rodins, die die Kuratorin Maria Obenaus um die zentrale Mensch-Genius-Bronze versammelt hat, sind dagegen Gestalten der Jetztzeit. In ihnen ist die Nabelschnur zur Kunst der Alten zerschnitten. Stattdessen tun sich zwei neue, zuvor undenkbare Alternativen auf. Die eine führt in die Abstraktion, die andere zur Monumentalkunst eines Kolbe und Breker. Beide Wege ist die Moderne gegangen. Und doch fragt man sich, wenn man Rodins Menschenbilder sieht, ob sie je wirklich über ihn hinausgelangt ist.