Odenwaldschule : Das Ende der Kindheit
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Treppe im Goethehaus Bild: Rainer Wohlfahrt
Eine Lebensgemeinschaft als familiärer Organismus, das war das Versprechen, das die Odenwaldschule einst gab. Der Missbrauchsskandal ließ von ihm nichts übrig. Jeder misstraut nun jedem. Elf Tage in einem kranken Haus.
Am zweiten Tag ist Clemens Kuby da. Ein Lehrer hat ihn eingeladen. Er steht in einem Klassenzimmer vor gut zwanzig Schülern, die meisten aus der Oberstufe, mehr Jungen als Mädchen. Clemens Kuby ist Anfang sechzig, mit grauem Haar und breitem Lächeln, selbst wenn es gar nichts zu lächeln gibt. Er ist ein ehemaliger Schüler der Odenwaldschule, er glaubt an Reinkarnation und hat die Europäische Akademie der Selbstheilung gegründet. Und er verspricht traumatisierten Menschen Rettung. Heute ist er nach Ober-Hambach gekommen, um seine alte Schule zu retten. Es geht um Missbrauch, seit Wochen geht es um nichts anderes hier. Sein Vortrag heißt "Für eine glückliche Kindheit ist es nie zu spät".

Redakteurin im Feuilleton.
Das Problem ist vielleicht gar nicht, dass die Schüler nach Monaten des Medienrummels eine solche Erklärung bekommen. Das Problem ist, dass es eine der wenigen ist, die sie überhaupt bekommen.
Am Tag danach eilt eine verstörte Schülerin im Speisesaal zum Tisch der Direktorin Margarita Kaufmann. Sie ist noch nicht einmal fünfzehn Jahre alt. Sie erzählt von Clemens Kuby. Er hat den Schülern erklärt, warum ein Vater sein Kind missbraucht. Der Vater war vielleicht in einem früheren Leben im Krieg. Jetzt sieht er in seinem Kind den Feind. Und missbraucht es.
Die Mission der Direktorin
Die Odenwaldschule ist ein von Hügeln beschützter Ort. Wie zu groß geratene Hexenhäuschen mit spitzen Dächern, Erkern und kleinen Fenstern verteilen sich die Gebäude in der Landschaft. Breite Wege verbinden sie miteinander. Alle tragen einen Namen, Herderhaus oder Goethehaus. Die meisten sind mit dunklem Holz verkleidet, das oft verwittert ist. Der lichte Wald schiebt sich nah an sie heran. Hier oben ist die Luft drei, vier Grad kühler als unten in Heppenheim, weshalb der Schlaf besonders tief sein soll. Die Sonne scheint, über allem liegt Friedlichkeit. Und dann dieser Satz: "Wir sind es den Opfern schuldig, jedes Verbrechen aufzuklären." Es ist der Satz von Margarita Kaufmann, der Direktorin der Odenwaldschule. Diese Frau, sagen manche, zerstört gerade die Schule. Sie behauptet, die Schule zu retten. Aber vielleicht glaubt sie, die Schule dafür zerstören zu müssen.
Margarita Kaufmanns Büro befindet sich im langgezogenen Hauptgebäude. Auf dem Konferenztisch stehen Blumen und ein Obstkorb, durch die Fensterfront fällt der Blick auf den zentralen Platz mit Holzbänken unter einer Linde. Alle Wege laufen dort zusammen. Die Schuleinfahrt wird gerade erneuert, das Hauptgebäude renoviert. Der Lärm mache sie wahnsinnig, sagt Margarita Kaufmann. Seit 2007 ist sie hier Direktorin. Sie sagt, sie halte das nicht mehr aus, sie halte das alles nicht mehr aus. Sie weint.