Die Bahn als Obdach : Der Zugnomade
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Friedhelm W. hat immer alles bei sich: Kleidung, Waschzeug, Zeitungen und eine Tasche für die Pfandflaschen Bild: F.A.Z. - Frank Röth
Er hat keine Wohnung, aber er ist kein Obdachloser. Er lebt und schläft in Zügen. Für die „Bahncard 100“ sammelt er Pfandflaschen. Verspätete Züge sind Einnahmequelle. Von einem Leben mit Stopps, aber ohne Halt.
Sieben Uhr morgens ist die Lounge im Bahnhof noch leer. Ein paar Pendler sitzen auf den roten Ledergarnituren des mit Parkett ausgelegten Warteraums, schlürfen in halbgeöffneten Outdoor-Jacken ihren Gratiskaffee oder blättern in den ausliegenden Zeitungen mit dem Aufkleber „Wir bitten um Rückgabe“. Auf den Fernsehern unter der Decke läuft n-tv, immer ohne Ton.
Wer hineinmöchte, in den Comfort-Bereich der Deutschen Bahn, braucht entweder eine Bahncard für Vielfahrer oder eine Fahrkarte der ersten Klasse. Beim Eintritt wird die Berechtigung am Service-Desk mit fast übertriebener Aufmerksamkeit geprüft. Doch dann schlurft ein Mann ohne Jacke mit Arbeitsschuhen und schmutzigen Taschen hinein, grüßt die Lounge-Mitarbeiter freundlich, lächelt wissend und geht einfach durch.
Er legt sein Gepäck ab, holt sich mehrere Zeitungen, setzt sich in die hinterste Ecke, legt mit flüssigen Handgriffen einen Wissenschaftsteil frei und beginnt mit der Lektüre. Irgendwann steht er auf und löst sich am Automaten eine Bouillon. Er wirkt müde, beachtet niemanden. Mit seiner abgetragenen Hose, dem gestreiften, etwas speckigen Hemd und dem nicht eben sauberen Pullover sieht er aus wie ein Obdachloser. Er ist aber keiner. Die Deutsche Bahn ist sein Obdach.
Wie ein Hobo im Wildwestfilm, nur überfordert
Friedhelm W. ist Zugnomade. Er besitzt eine von 35.000 „Mobility Bahncards 100“, die es ihm ermöglicht, ein ganzes Jahr lang mit der Deutschen Bahn an jedes gewünschte Ziel zu fahren, ohne einen einzigen Fahrschein zu lösen. Doch Friedhelm W. ist nicht einfach nur unterwegs. Er lebt, schläft und arbeitet in Zügen. Die DB-Lounge ist seine Küche, sein Wohnzimmer und sein Bad.
Als er die Bouillon ausgetrunken hat, wird er hektisch, schultert seinen Rucksack, nimmt seine beiden Taschen und verlässt in sonderbar pendelnden Schritten die Lounge, wieder grüßend. Sein Kopf hängt versonnen schief in die Welt hinein, sein Körper ist vom vielen Tragen ein wenig eingesunken. Er nimmt die Treppe, tritt in die Kälte, registriert die Anzeigetafel, verfällt in einen leichten Laufschritt Richtung Bahnsteig. Fast in letzter Sekunde springt er auf den Zug, wie ein Hobo im Wildwestfilm, nur wirkt er dabei überfordert. Gezielt steuert er den Rollstuhlsitz in Wagen 22 an, da hat er den Platz, den er braucht. Er setzt sich, breitet Zeitungen aus, gräbt eine medizinische Schere aus einer der Taschen und beginnt, einzelne Artikel auszuschneiden.
Friedhelm W. wartet immer, bis andere Menschen auf ihn zukommen. Er selbst kommt auch alleine klar, er fragt sich nur, sobald sich jemand eingehender für ihn interessiert: „Kann der mich verletzen?“
Freizeit hat er, wenn andere arbeiten
Seine Handinnenflächen sind grau, seine Fingernägel haben Schatten, trotzdem gibt man ihm gerne die Hand. Spricht man ihn an, schärft er seinen abwesenden Gesichtsausdruck, schaut beherrscht und dann freundlicher. Ein Aufnahmegerät lehnt er ab. Er möchte nicht, dass man ihn wiedererkennt, Friedhelm W. ist auch nicht sein richtiger Name. Als er sich entschieden hat zu erzählen, beginnt er, als habe er nur darauf gewartet. Mit ruhiger Stimme, manchmal weit ausschweifend, aber immer wie auf einen Punkt gerichtet, den nur er kennt. Unterbrechen lässt er sich nicht, versucht man es, erhebt er seine Stimme, bis sein Gedanke zu Ende geführt ist. Mitschreiben kommt nicht in Frage, weil er mit seinem leicht fränkischen Zungenschlag eine unfassbare Realienflut über den Zuhörer ausschüttet.