Rezension: Sachbuch : Frühe Reisen
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"Reise von Leipzig nach Dresden und in die Sächsische Schweiz" von Hans Christian Andersen, mit malerischen Ansichten von C. A. und Ludwig Richter sowie weiteren zeitgenössischen Abbildungen. Insel Verlag, Insel-Bücherei Nr. 1194, Frankfurt und Leipzig 2000. 71 Seiten. Gebunden, 19,80 Mark. ISBN 3-458-19194-1
Als Hans Christian Andersen 1831 einen "Ausflug nach dem Harz und der Sächsischen Schweiz" unternahm, gärte und brodelte es in mehreren deutschen Bundesländern. Die politische Elite übte radikale Kritik an der Restaurationspolitik Metternichs. In Hessen beispielsweise arbeitete Georg Büchner am "Hessischen Landboten", in der Pfalz bereiteten Studenten das Hambacher Fest vor, und auch in Sachsen kämpften die neu gegründeten Burschenschaften gegen Überwachung und Zensur des Polizeistaates. Doch von alledem erfahren wir in dem "Reiseschatten" des Märchenerzählers nichts. Zu sehr ist das Märchen zur Lebensform des Dichters geworden. In einer Kutsche fährt er, ein anderer Taugenichts, vorbei an üppig wallenden Getreidefeldern, nach Leipzig, in die "große freundliche Stadt mit geraden Straßen". Hier trifft er nicht auf protestierende Studenten, sondern auf junge Burschen "mit langen Pfeifen im Munde und die Collegienhefte unter dem Arm". Es gibt nichts in dieser Stadt, in dem nicht das Wunderbare Gestalt angenommen hätte: die Nikolaikirche, der Friedhof mit Gellerts Grab, "Auerbachs Keller", die Oper und "Reichenbachs Garten". Und auch die Weiterfahrt von Leipzig über Meißen nach Dresden wird zur Poesie. Natur und Kunst verschmelzen: "Ein Bild wechselte mit dem anderen, wenn wir durch die Wagenfenster hinaussahen." Da war ein "Nachtstück in Rembrandtscher Manier", dort eins, das Ruysdael gemalt haben könnte. Das Alltagsleben in Meißen zeigt sich "in seinen Sonntagskleidern". Doch erst in Dresden selbst wird das Gefühl des Reisenden zum Organ des Wahren, Guten und Schönen. Ob auf der Augustusbrücke, in der katholischen Kirche, im "Linkeschen Bade", in der Bildergalerie vor Raphaels Madonna, bei einer Begegnung mit Ludwig Tieck oder auf seiner Reise durch die Sächsische Schweiz, immer wieder erlebt der Dichter, wie sich "die Dissonanzen der Seele auflösen, so dass Harmonie zwischen dem Irdischen und dem Ewigen entsteht". Gewiss, dem heutigen Leser und Touristen ist weithin der Sinn für die verborgenen Beziehungen zwischen Natur und Kunst und zwischen Gott und Welt abhanden gekommen. Hans Christian Andersen aber kann mit "den romantischen Träumen eines unschuldigen Herzens" auch in modernen Menschen das Gefühl für eine bezaubernde Welt wieder beleben. (A.W.)