: Hanoi - offene Stadt
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Privatheit ist ein Segen für den Einzelnen und ein Fluch für den Reisenden. Denn sie reduziert das öffentliche Leben auf ein Minimum und raubt dem Reisen seinen Reiz. Für Menschen, die unterwegs sind, gibt es nichts Schrecklicheres als verödete Innenstädte, deren Herzschlag mit dem Ladenschluss erstirbt, ...
Privatheit ist ein Segen für den Einzelnen und ein Fluch für den Reisenden. Denn sie reduziert das öffentliche Leben auf ein Minimum und raubt dem Reisen seinen Reiz. Für Menschen, die unterwegs sind, gibt es nichts Schrecklicheres als verödete Innenstädte, deren Herzschlag mit dem Ladenschluss erstirbt, oder scheintote Neubausiedlungen, deren einziges Zeichen von Bewohntheit flackerndes Fernsehlicht hinter Gardinen ist. Als Fremder kommt man sich dort wie ein Aussätziger vor, ausgeschlossen vom Leben, unerwünscht als sein Teilhaber. Deswegen ist es ein solches Glück, in Ländern zu sein, die ihren Alltag nicht verbergen, sondern ihn wie einen großen Schwall auf die Straße schütten.
Es gibt kaum einen Ort auf der Welt mit einer öffentlicheren Privatheit als Hanoi. Die Armut der Vietnamesen ist der Reichtum ihrer Besucher. Die wenigsten von ihnen sind privilegiert genug, um sich einen großzügigen, isolierten Wohnraum leisten zu können, und leben notgedrungen, aber keinesfalls notleidend auf der Straße. Spaziert man durch Hanoi, fühlt man sich, als gehe man durch Wohnzimmer, Esszimmer, Arbeitszimmer, Schlafzimmer, als habe diese Stadt gar keine Wände, als blicke man in ihr Inneres wie bei einem Querschnitt. Haare werden auf dem Bürgersteig geschnitten, Bärte rasiert, Mopeds repariert, Kinder erzogen, Siestas gehalten, Wunder gekocht - niemals wird man es vergessen, wenn man jemals in Hanoi in einem Trottoirrestaurant auf einem wackligen Plastikschemel gesessen und einen frischen Krebs mit Knoblauch und Ingwer im Laternenschein gegessen hat, weil es für alle Zeiten der beste aller Krebse gewesen sein wird. Doch bei aller Nähe kommt man sich nicht vor wie ein Voyeur, der durch das Privatissimum der Menschen trampelt. Auch bei der größten Intimität der Begegnung bleibt immer eine Distanz, ein unsichtbarer Vorhang aus Würde. Man grüßt freundlich, wird freundlich gegrüßt und weiß ganz genau, wie lange man stehen bleiben und schauen darf und wann es Zeit ist weiterzugehen. Das ist ein Gebot der Menschlichkeit: Je verletzlicher, je ungeschützter der Lebensraum ist, umso rigoroser wird er respektiert.
"Public Private" lautet der programmatische Titel, den der Hamburger Fotograf André Lützen seinen Aufnahmen aus Hanoi gegeben hat. Ihn interessiert nicht die pittoreske Seite des öffentlichen Lebens, keine Marktstände und Garküchen, keine spielenden Kinder und schwatzenden Alten, kein folkloristisches Idyll und kein bunter Exotismus. Sein Blick gilt der Beiläufigkeit des Lebens, seinen unbemerkten Momenten. Eine schlafende Katze, eine kauernde Frau vor einem Fernseher, ein erschöpfter Mann im Liegestuhl, ein Stillleben aus Gerümpel, Mädchen unter einer Laterne wie Nachtfalter, das sind seine Motive - und er weiß immer genau, wann es Zeit ist weiterzugehen. Lützen zeigt keine schöne Stadt und keine strahlenden Menschen, er entlarvt aber auch nichts und klagt schon gar nicht an. Ihm ist weder an einer Dokumentation der Armut gelegen, noch will er das Mitleid des Beobachters erregen. Denn das wäre eine Respektlosigkeit, ein Missbrauch der Intimität des öffentlichen Lebens, den ein Reisender niemals begehen darf.
JAKOB STROBEL Y SERRA
"Public Private Hanoi" von André Lützen ist in der Freelens Galerie (Steinhöft 5, 20459 Hamburg) bis zum 19. August zu sehen. Das Buch dazu ist im Kehrer Verlag, Heidelberg erschienen. 112 Seiten, zahlreiche Farbfotos. Gebunden, 39,80 Euro.