Je weniger Gedächtnis, desto mehr Vergangenheit
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Nekro-Nostalgie: Ein Wandbild des bulgarischen Künstlers Stanislaw Belowski zeigt Russlands Präsidenten Putin, der seinen eigenen toten Körper trägt. Bild: dpa
Putins Angriff auf die Ukraine ist nicht nur ein Krieg um Territorium, sondern auch um historische Erinnerung. Meine Heimat Bulgarien hat er in ein tief gespaltenes Land verwandelt. Ein Gastbeitrag.
Das Erste, was mir am Morgen des 24. Februar 2022 durch den Kopf ging, als ich von Russlands Überfall auf die Ukraine erfuhr, war, dass Putin uns allen in Europa den Krieg erklärt hat und wir in Reichweite eines Atomschlags sind, während meine Tochter im Nebenzimmer schlief. Jeder Krieg ist eine Zeitmaschine und zugleich ein Riss in der Zeit. Plötzlich kehrte die Vergangenheit zurück. Ich rief mir die Ratschläge für richtiges Verhalten bei einem Atomangriff ins Gedächtnis, die man uns in der Schule eingetrichtert hatte. Nichts war hilfreich.
Weder hatte ich eine Gasmaske, die ich mir in siebzehn Sekunden aufsetzen konnte, noch wusste ich, wo sich der nächste Luftschutzraum befand. Die Ratschläge, sich von Fenstern fernzuhalten, um bei einer Explosion Schnittwunden zu entgehen, oder nicht in den Atompilz zu schauen, klangen besonders absurd. Und erwarteten wir früher den Schlag aus dem Westen, fürchten wir ihn jetzt aus dem Osten, von unserem einstigen großen Bruder. Man kommt ganz durcheinander, in welche Richtung man sich auf den Boden werfen soll. Das Schwerste aber blieb, wie ich all das meiner Tochter erklären sollte.
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