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Zum Tod von Tina Turner : Wir brauchten diese Heldin

Rocksängerin Tina Turner bei einem Auftritt in Helsinki im Jahr 1990 Bild: Picture Alliance

Tina Turner machte an der Seite von Ike den Rhythm and Blues vollends aufregend. Als Solistin definierte sie den Mainstream-Soul noch einmal ganz neu. Nun ist sie im Alter von 83 Jahren gestorben. Ein Nachruf.

  • -Aktualisiert am
          2 Min.

          „Only the strong survive“ – der gleichnamige Soulsong von Jerry Butler drückt scheinbar nur eine Trivialität aus. Aber wenn man das Leben und die Karriere von Tina Turner betrachtet, dann weiß man, wie wenig selbstverständlich das Überleben auch für die Starken und sogar die Stärksten ist. Tina Turner gehörte ganz zweifellos zu den Allerstärksten, menschlich wie künstlerisch.

          Edo Reents
          Redakteur im Feuilleton.

          Anna Mae Bullock, wie sie eigentlich hieß, war noch eine junge Frau, als sie der bereits erfahrene Entertainer Ike Turner aus dem kleinen Ort Nutbush in Tennessee mitnahm in die Welt des Showbusiness – eine fast Bonnie-und-Clyde-hafte Begebenheit.

          Sie sang sich die Seele aus dem Leib

          Ike und Tina Turner brachten seit 1960, beinahe Abend für Abend, eine der aufregendsten Rhythm-and-Blues-Revues auf die Bühnen Amerikas; Tina war jung schon Mutter von vier Kindern, wurde von Ike schikaniert und geschlagen, nachzulesen später in ihrer Autobiographie, die einen beklemmenden Film abwarf, biss aber die Zähne zusammen, sang sich, am heftigsten auf der von Phil Spector produzierten Platte „River Deep, Mountain High“ (1967), die Seele aus dem Leib, schrieb, wohl schon mehr für sich, den größten Ike-and-Tina-Turner-Hit „Nutbush City Limits“ (1973), einen unwiderstehlich stampfenden Song mit einem sirenenhaft heulenden Synthesizer – bis sie es einfach nicht mehr aushielt und 1976, nach, wie sie sagte, 16 Jahren Leibeigenschaft und praktisch mittellos, ausriss auf Nimmerwiedersehen mit dem Monster und musikalischen Genie Ike.

          Und irgendwann, Anfang der Achtzigerjahre, besuchte Mick Jagger, dem sie einst das Tanzen beigebracht hatte, in New York eines der Konzerte seiner, wie er sagte, Lieblingssängerin – so wurde aus Tina Turner ein zweites Mal ein Star, nun in noch ganz anderen Dimensionen. Ihre Platte „Private Dancer“ (1984) mit dem Überhit „What’s Love Got to Do with It“ markierte ihren zweiten, eigentlichen Durchbruch und, als Dokument eines fast überproduzierten Mainstream-Souls, den Beginn dessen, was man seither „contemporary R&B“ nennt.

          Tina Turner bei einem Auftritt in Zürich 2009 Bilderstrecke
          Im Alter von 83 Jahren : Zum Tod einer Musiklegende

          Mariah Carey und Beyoncé sind ihre Schülerinnen

          Mariah Carey, Beyoncé und viele andere sind ihre Schülerinnen, denen sie mit ihrem auch das Klischee nicht scheuenden, aber unerschütterlich selbstbewussten weiblichen Habitus den Weg bahnte. Sie hat, über die Unterhaltungsmusik hinaus, für das weibliche Selbstwertgefühl in den Achtziger- und Neunzigerjahren, als sie selbst längst aus dem Gröbsten heraus war, wahrscheinlich mehr getan als jede andere Unterhaltungskünstlerin.

          In jener Zeit wollte die Hit-Serie einfach nicht abreißen: „Typical Male“, „Two People“, „Steamy Windows“, „I Don’t Wanna Lose You“ und dann vor allem die Oberkracher „We Don’t Need Another Hero“ und „The Best“, sämtlich dargeboten mit einer üppigen Instrumentierung, bei der nichts dem Zufall überlassen wurde, intoniert mit einer mal kehlig schnurrenden, mal frenetisch kreischenden Stimme, fast durchweg im Overdrive, fast könnte man sagen: wie einst an der Seite von Ike.

          Sie bleibt in Erinnerung als Superstar

          In diesem hochkommerzialisierten Karriereabschnitt, der auch eine spektakuläre Rolle in einem der „Mad Max“-Filme und, Ritterschlag für jeden Popinterpreten, den großartigen James-Bond-Song „Golden Eye“ abwarf, vollzog sie, zur selben Zeit wie Michael Jackson, den endgültigen Brückenschlag des ursprünglich schwarzen Souls zum weißen Publikum. Es heißt hoffentlich nicht, Wasser in den Wein zu gießen, wenn man fragt, ob und inwieweit dies nicht ein Verrat an etwas ist, das einmal unter Getto-Musik verbucht wurde und nun, dermaßen auf Hochglanz poliert, fast nicht mehr wiederzuerkennen war.

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          Sei es drum. An Tina Turners Integrität und erst recht an ihrer immensen Professionalität ändert das nichts. Verhältnismäßig spät wurde sie der absolute Superstar, als der sie wohl ewig in Erinnerung bleiben wird. Dass diese vitale, lebenszugewandte Frau einmal nicht mehr sein würde, konnte man sich lange nicht vorstellen. Aber es ist wahr: Tina Turner ist jetzt, 83 Jahre jung, gestorben.

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